Ich haette dich geliebt
Worte richteten sich an meinen Vater Louis Kampen. Auch wenn dort kein Name stand, sondern immer nur ein L., war hundertprozentig klar, dass er der Adressat des offenbar geplanten Briefes gewesen sein musste.
Wusste ihre Schwester nicht, was dort in ihrem Schrank gestanden hatte? Oder wollte sie es nicht wissen? Und wieso hatte sie mir ausgerechnet dieses Buch gezeigt?
Die Überschrift hatte Emma zehn Mal geändert. Immer wieder wurde das „Lieber“ durch ein „Also“ oder ein „Hallo“ ersetzt. Warum sie das getan hatte, erklärte sie selbst schon in den ersten drei Zeilen. Es dauerte lange, bis ich den Rest in einen zusammenhängenden Text bringen konnte. Als ich mir Wort für Wort und Satz für Satz akribisch erschlossen hatte, waren fast zwei Stunden vergangen. Ich hatte es nicht bemerkt. Mein Gesicht glühte, denn mit jedem Satz wurde mir klarer, wie ungeahnt tragisch, ja fast ironisch, die ganze Geschichte um meine Eltern wirklich war.
Lieber L.,
ich habe lange über diese Überschrift nachgedacht. Lieber L. Oder nur L. Oder gar nichts. Am Ende erschien es mir richtig, „Lieber L.“ zu schreiben. Es spielt auch keine zu große Rolle mehr. Wir alle wissen selbst am besten, wann wir lieb sind und wann nicht.
Die Dinge, die wir tun, haben immer zwei Seiten.
Ich habe sicher nicht viel Böses getan. Aber Gutes vielleicht auch nicht. Eher nichts.
Ich nehme an, dass ich mich jetzt umbringe, ist die spektakulärste Handlung in meinem Leben. Ob sie gut oder böse ist, werden andere genug beurteilen.
Aber das ist mir dann egal. Ich weiß, ich seh aus wie jemand, der in die Kirche geht, aber dem ist nicht so. Ich glaube nicht an Gott. Nicht an die Kirche. Wenn ich tot bin, bin ich tot. An etwas anderes glaube ich nicht.
Ich frage mich, ob ich mich auch umgebracht hätte, wenn ich Dich nicht kennengelernt hätte. Die Antwort ist wahrscheinlich ja. Dann hätte es nur länger gedauert.
Alle sagen, ich sei krank.
Ist das eine Krankheit? Gefühllosigkeit? Taubheit im Herzen?
Ich bin eine nichtssagende Person.
Meine Schwester ist hingegen goldig. Sie will Ärztin werden und wird verehrt. Ich weiß gar nicht, ob sie mich aus dem Gedächtnis heraus beschreiben könnte.
Die Leute finden mich nett, das schon. Ich störe ja niemanden mit meiner nicht vorhandenen Ausstrahlung und meinem blassen Gesicht.
Wie Du mich angesehen hast, im Zug, auf dem Weg zu Deinen Eltern! Es war kaum auszuhalten. Du hast mich gemustert, und ich habe gespürt, dass Du nichts erkennen konntest. Ein Mädchen wie jedes andere auch, nur noch einfältiger, nicht wahr?
Ich weiß, dass mein Leben nichts wert ist. Ich fühle es. Alles um mich ist grau. Es ist schwer, das Leben zu ertragen, mit dem Wissen, dass es nicht mehr besser wird. Zu schwer. Ich habe keine Lust, weiter vor mich hinzuleben in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Ich kann es sehen bei anderen Menschen. Die Freude in den Augen, den Schmerz, die Wut.
Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nichts. Genau wie Du nichts gesehen hast. Ich bin mein eigener Schatten.
Als ich ein Baby war, haben mich meine Eltern noch verwöhnt. Doch als ich älter wurde, machte ich ihnen Angst. Ich weinte nie, lachte nie. Wollte nie etwas. Sie verloren das Interesse an mir. Ich kann es ihnen nicht verdenken.
Ich habe gedacht, dass ich diese Leblosigkeit überwinden würde. Wenn ich jemanden liebte. Als ich Dich sah, dachte ich, dass Du es sein könntest.
Du hast so viel Lebendigkeit ausgestrahlt, dass ich dachte, Du könntest mir etwas abgeben. Ich habe Dich beobachtet. Da war soviel Bewegung in Deinem Gesicht.
Und was hast Du mich ignoriert! Damit kam ich klar. Das kenne ich nicht anders.
Doch als Du mich fragtest, ob ich Dir helfen könne, wegen Deiner Eltern, brach etwas in mir auf. Ich hatte die Hoffnung, mich in Dich zu verlieben.
Du hörst richtig. Ich hatte die Hoffnung, mich in Dich zu verlieben. Es ging mir nicht um Deine Liebe. Ich wollte das Verliebtsein spüren, den Liebeskummer, den Schmerz.
Ich wollte weinen.
Und als ich merkte, dass es nicht funktionierte, weinte ich tatsächlich. Ich trauerte über meine Unfähigkeit, zu leben und zu fühlen. Ich wette, Du dachtest, ich weine wegen Dir. Aber nein. Ich weinte wegen mir und diesem dummen Leben.
Also L., ich habe es nicht geschafft, mich in Dich zu verlieben. Ich würde mich niemals in jemanden verlieben können. Das wusste ich.
Ich weiß schon, dass ich anders gesprochen habe, vorwurfsvoll. Aber ich hatte mir das
Weitere Kostenlose Bücher