Ich hasse dich - verlass mich nicht
entlassen würde, aber weiterhin am Tagesprogramm teilnehmen würde. Sie würde tagsüber an den geplanten Gruppensitzungen teilnehmen und nachmittags nach Hause gehen. Am zweiten Tag des ambulanten Programms erschien sie mit Verspätung und wirkte ungepflegt und verkatert. Unter Tränen berichtete sie von einer schäbigen Begegnung mit einem Fremden am Vorabend in einer Bar. Jetzt wurde mir die Situation klarer. Sie bettelte darum, dass man ihr Grenzen setzte, sie kontrollierte und ihr Struktur gab, konnte diese Abhängigkeit aber nicht zugeben. Also verhielt sie sich unerhört, damit Kontrollen nötig wurden, wurde dann wütend und verneinte, dass dieser Wunsch bestand.
Ich wusste das, aber sie konnte es nicht erkennen. Langsam freute ich mich nicht mehr darauf, sie zu sehen. In jeder Sitzung wurde ich an mein Versagen erinnert, und ich wünschte, dass es ihr entweder besser ginge oder sie einfach verschwinden würde. Als sie erklärte, dass vielleicht der Arzt ihrer Zimmernachbarin besser für sie sei, interpretierte ich dies so, dass sie vor sich selbst und den wirklichen Problemen wegrennen wollte. Ich wusste, dass ein Wechsel das Gegenteil bewirken würde, aber insgeheim hoffte ich, dass sie um meinetwillen den Arzt wechseln würde. Sie sprach immer noch davon, dass sie sich umbringen wollte, und ich hatte Schuldgefühle bei der Vorstellung, dass es für mich fast eine Erleichterung wäre, wenn sie ihre Drohung wahrmachte. Durch ihr wechselhaftes Verhalten hatte ich mich von einem Masochisten in einen Sadisten verwandelt.
Während der dritten Woche ihrer ambulanten Behandlung erhängte sich ein anderer Patient, als er einen Urlaubsschein hatte und zu Hause war. Voller Angst geriet Julie in Wut: »Warum wussten Sie und das Personal nicht, dass er sich umbringen würde?«, schrie sie. »Wie konnten Sie das zulassen? Warum haben Sie ihn nicht beschützt?«
Julie war am Boden zerstört. Wer würde sie beschützen? Wer würde dafür sorgen, dass ihr Schmerz vergehen würde? Endlich erkannte ich, dass Julie dies selbst bewerkstelligen musste. Niemand anders steckte in ihrer Haut. Niemand anders konnte sie vollständig verstehen und schützen. Langsam ergab dies für mich und nach einer Weile auch für Julie Sinn.
Sie erkannte, dass sie nicht vor sich selbst fliehen konnte, egal wie sehr sie versuchte, vor ihren Gefühlen davonzurennen. Obwohl sie vor dem schlechten Menschen, für den sie sich hielt, wegrennen wollte, musste sie lernen, sich zu akzeptieren, wie sie war, nebst Fehlern. Schließlich würde sie erkennen, dass sie sie selbst sein konnte.
Julies Zorn auf das Krankenhauspersonal ging langsam auf das Selbstmordopfer über, das »sich keine Chance gegeben hatte«. Als sie seine Verantwortung erkannte, begann sie auch die ihre zu sehen. Sie erkannte, dass die Menschen, denen sie wirklich etwas bedeutete, sie nicht einfach tun ließen, was sie wollte, so wie ihre Eltern es getan hatten. Manchmal bedeutet Fürsorge auch, Grenzen zu setzen. Manchmal bedeutete es, ihr Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollte. Und manchmal bedeutete es, sie daran zu erinnern, dass sie für sich selbst verantwortlich war.
Es dauerte nicht lange, und alle – Julie, das Krankenhauspersonal und ich – arbeiteten zusammen. Ich gab es auf, um alles in der Welt sympathisch, klug und fehlerlos sein zu wollen; es war wichtiger, konsequent und verlässlich zu sein – da zu sein.
Nach mehreren Wochen verließ Julie das ambulante Krankenhausprogramm und setzte die Therapie in meiner Praxis fort. Sie fühlte sich immer noch einsam und ängstlich, aber sie musste sich keinen Schmerz mehr zufügen. Noch wichtiger war, dass sie die Tatsache akzeptierte, dass sie Einsamkeit und Angst überleben, aber sich selbst immer noch mögen konnte.
Nach einiger Zeit lernte Julie einen Mann kennen, der sie wirklich zu mögen schien. Was mich betraf, so lernte ich ebenfalls ein paar Dinge – dass unangenehme Gefühle weitgehend bestimmen, wer ich bin, und dass die Annahme dieser unangenehmen Seiten meiner selbst mir hilft, meine Patienten besser zu verstehen.
Der Beginn der Behandlung
Therapeuten, die Borderline-Patienten behandeln, erleben häufig, dass die Härte der Behandlung eine große Belastung für ihre professionellen Fähigkeiten und ihre Geduld bedeutet. Die Behandlungssitzungen können stürmisch, frustrierend und nicht vorhersehbar sein. Die Behandlungszeit bewegt sich im Schneckentempo und kann sich über mehrere Jahre hinziehen,
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