Ich hasse dich - verlass mich nicht
den Frühstadien der Behandlung erzählte Elisabeth von David, ihrer neuesten und wichtigsten Affäre. Er war zwölf Jahre älter, ein alter Freund der Familie und der Priester der Gemeinde. Er war ein Mensch, den die ganze Familie kannte und verehrte, besonders ihre Mutter. Er war der einzige Mann, mit dem Elisabeth sich verbunden fühlte, und die einzige Beziehung, die sie nicht unter Kontrolle hatte. Über einen Zeitraum von zwei Jahren beendete er die Affäre mehrmals abrupt und ließ sie dann wieder aufleben. Später gestand Elisabeth ihrem Psychiater, dass David der Vater ihres Kindes sei. Ihr Mann wusste offenbar nichts davon.
Elisabeth zog sich immer mehr zurück. Die Beziehung zu ihrem Mann, der häufig aus geschäftlichen Gründen verreist war, verschlechterte sich immer mehr. Sie entfremdete sich noch stärker von ihrer Mutter und den Brüdern, und ihre wenigen Freundschaften drohten in die Brüche zu gehen. Sie widersetzte sich den Versuchen, ihren Mann mit in die Therapie einzubeziehen, weil sie das Gefühl hatte, dass Lukas und ihr Arzt unter einer Decke steckten und seine Sicht der Dinge bevorzugten. Selbst die Therapie bestärkte sie also in dem Glauben, dass sie niemandem vertrauen oder an niemanden glauben könne, weil sie immer wieder enttäuscht werden würde. All ihre Gedanken und Gefühle schienen mit Widersprüchen beladen zu sein, so als ob sie sich in einem Labyrinth voller Sackgassen befand. Ihre Sexualität schien der einzige Ausweg aus dem Labyrinth zu sein.
Ihr Therapeut war häufig das Ziel ihrer Klagen, weil er derjenige war, der »die Kontrolle« hatte. Sie schrie ihn an, beschuldigte ihn, unfähig zu sein, drohte, mit der Therapie aufzuhören. Sie hoffte, dass er böse werden, sie anschreien und die Behandlung einstellen würde oder aber defensiv reagieren und sie bitten würde zu bleiben. Er tat jedoch weder das eine noch das andere, und sie wurde wütend, da sie seine Unerschütterlichkeit als Beweis dafür sah, dass er zu keinen Gefühlen fähig war.
Obwohl sie an die häufigen Geschäftsreisen ihres Mannes gewöhnt war, wurde sie ängstlicher, wenn sie allein war. Während seiner Reisen schlief sie aus Gründen, die ihr noch nicht klar waren, auf dem Fußboden. Wenn Lukas zurückkam, ließ sie ständig ihren Zorn an ihm aus. Sie wurde depressiver. Selbstmord schien weniger eine Wahlmöglichkeit als ein Schicksal, so als ob alles auf dieses Ende zuführte.
Elisabeths Wahrnehmung der Realität begann brüchig zu werden: Sie sehnte sich danach, psychotisch zu sein, in einer Fantasiewelt zu leben, in der sie in ihrer Vorstellung »überall hingehen« konnte. Die Welt würde so weit weg von der Realität sein, dass niemand – selbst der beste Psychiater nicht – ihr nahekommen und sehen könnte, »was sich darunter befindet«.
In ihren Tagträumen sah sie sich von einem starken, attraktiven Mann beschützt, der all ihre bewundernswerten Eigenschaften aktiv zu schätzen wusste und sich ständig um sie kümmerte. In ihrer Fantasie stellte sie sich vor, dass es sich um einen ihrer früheren Lehrer, dann ihren Gynäkologen, dann den Tierarzt und schließlich um ihren Psychiater handelte. Elisabeth nahm all diese Männer als mächtig wahr, doch sie wusste tief in ihrem Innern auch, dass sie unerreichbar waren. Aber in ihrer Fantasie waren sie von ihrem Charme überwältigt und wurden unwiderstehlich von ihr angezogen. Wenn die Realität ihrem Drehbuch nicht folgte – wenn einer dieser Männer ihre Flirtversuche nicht energisch erwiderte –, wurde sie verzweifelt und verachtete sich, weil sie glaubte, nicht attraktiv genug zu sein.
Überall, wo sie hinsah, sah sie Frauen, die hübscher, klüger, besser waren. Sie wünschte sich schöneres Haar, eine andere Augenfarbe, eine glattere Haut. Wenn sie in den Spiegel blickte, sah sie keine schöne junge Frau, sondern eine alte Hexe mit herabhängenden Brüsten, breiten Hüften und dicken Beinen. Sie verachtete sich, weil sie eine Frau war, deren einziger Wert in der Schönheit bestand. Sie sehnte sich danach, ein Mann zu sein, »damit mein Kopf zählt«.
Im zweiten Jahr ihrer ambulanten Therapie musste Elisabeth mehrere Verluste hinnehmen. Ihr Lieblingsonkel, dem sie sehr nah gewesen war, starb. Sie wurde von wiederkehrenden Träumen und Albträumen verfolgt, an die sie sich nicht erinnern konnte, wenn sie aufwachte. Sie wurde depressiver und dachte häufiger an Selbstmord. Schließlich wurde sie ins Krankenhaus eingewiesen.
Mithilfe
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