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Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Titel: Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Bergmann
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Knallerbsenstrauch – den ihr Nachbar um des lieben Friedens willen umgepflanzt hatte – es je vermocht hätte. Zindler war irgendwann mit den Nerven fertig, verkaufte ihr Haus und zog weg.
    Wie riskant an sich harmlose öffentliche Auftritte sein können, erfuhr auch ein anderes Raab-Opfer. Eine Gymnasiastin hatte sich 2001 bei einer Miss-Wahl in Köln beworben und in eine Kamera gesagt: »Mein Name ist Lisa Loch und ich bin 16 Jahre alt.« Woraufhin sie tagelang von Raab in TV total mit zotigen Witzen veralbert wurde. Unter anderem präsentierte er ein Werbeplakat für eine »Lisa-Loch-Partei«, auf dem eine Blondine beim Sex gezeigt wurde. Das Opfer zog vor Gericht,erwirkte eine Unterlassungserklärung von Raab und setzte nach zwei Instanzen auch Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 Euro vor dem Oberlandesgericht durch. Ein Präzedenzfall: Nie zuvor war einer in der Öffentlichkeit unbekannten Person eine so hohe Summe zugesprochen worden. Loch hält mittlerweile Vorträge über den Fall, modelt neben ihrem Studium der Betriebswirtschaftslehre und moderiert eine Internetshow. Außerdem hat sie ein Buch über ihre Geschichte geschrieben, für das sie, wie sie dem Stern sagte, einen Verlag suche.
    Zu den unfreiwillig Prominenten zählt auch ein Mann, der, ohne sich je öffentlich zu exponieren, weltberühmt und gnadenlos ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde. All das konnte er nicht ahnen, als er in seinen besten Jahren Opfer eines Überfalls wurde. Auf der Flucht vor seinen Feinden wurde er von einem Pfeil in den Rücken getroffen. Er starb in 3210 Meter Höhe in den Ötztaler Alpen im heutigen Südtirol und wurde im Gletscher vom Hauslabjoch gefriergetrocknet. Rund 5300 Jahre später, im Rekordsommer 1991, schmolz das Eis und ein Nürnberger Ehepaar entdeckte die mumifizierte Leiche bei einer Wanderung. Seit 2008 wird sie bei minus 6,5 Grad Celsius im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen hinter Glas öffentlich zur Schau gestellt. Ein Heer von Wissenschaftlern und Journalisten ist dem Ötzi zu Leibe gerückt. Die Zeitschrift National Geographic , einer der Hauptsponsoren der Ausstellung, bezeichnete die Untersuchungen als »teuerste Totenschau der Geschichte«. Ihr Zweck ist die totale Durchleuchtung von »Frozen Fritz«, wie ihn britische Boulevardblätter nennen: vom sozialen Status (hoch, wegen der aufwändigen Kleidung und seines Kupferbeils) über seine Essgewohnheiten (letzte Mahlzeit: Steinbock, Brot, Salat) bis hin zu seiner Krankengeschichte (er litt unter anderem an Karies, Würmern, gebrochenen Rippen undeiner Laktose-Intoleranz). 2011 wurde Ötzi zudem aufgetaut, um seine Eingeweide noch genauer unter die Lupe nehmen zu können. »Es gab Momente bei der Autopsie«, sagte Albert Zink vom Bozener Institut für Mumien und den Iceman, »da hatte ich doch so etwas wie Mitleid mit ihm. Er wurde so … ja: ausgekundschaftet!«
Sehr nützlich und auch schädlich: die Bild -Zeitung
    Verlust an Privatsphäre ist der Preis der Prominenz. Wer bekannt werden will, muss sich den Massenmedien in gewisser Weise ausliefern. Ohne ihre Verstärkungswirkung läuft nichts. Sie fungieren nicht nur als Filter, indem sie entscheiden, wer es ins Rampenlicht schafft und wer nicht, sondern übernehmen zunehmend die Produktion von allerlei Prominenten-Typen. Diese Figuren werden systematisch erschaffen – und bei Bedarf auch wieder demontiert. Der wichtigste Akteur in diesem Geschäft ist hierzulande die Bild -Zeitung. Zwar hat das Blatt seit der Jahrtausendwende mehr als ein Drittel seiner Auflage verloren und setzt nur noch rund 2,7 Millionen Exemplare täglich ab. Doch ist es einflussreicher denn je, weil Bild nicht mehr als igitt gilt, sondern bis in die Elite hinein als satisfaktionsfähig und »Leitmedium«. Thomas Gottschalk brachte das in der Promi-Anzeigen-Kampagne (»Ihre Meinung zu Bild , Thomas Gottschalk?«) so auf den Punkt: » Bild hat mich erst zur Schnecke gemacht und dann zum ›Titan‹! Wer in Deutschland was werden will, muss da durch!« Das wird anscheinend allgemein akzeptiert. Die Zeiten, als weite Teile der linken Intelligenz die Boulevardzeitungboykottierten – deren Chefredakteur Kai Diekmann 2002 vom Landgericht Berlin attestiert bekam, er ziehe »bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsverletzung anderer« –, sind vorbei. Auch Alice Schwarzer, Symbolfigur des Feminismus, war sich nicht zu schade, für die Zeitung mit den großen Lettern und nackten Mädchen die

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