Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
gefesselten Händen? Mit einer Nagelpistole am Hals?
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Es würde keine Kombinationen geben, dachte Liv. Kein Links-Rechts-Links jeglicher Art. Nicht mit gefesselten Handgelenken. Dafür konnte sie eine Faust machen. Eine Doppelfaust. Und sie hatte Ellenbogen und Schultern. Sie hatte ein wenig Bewegungsfreiheit mit dem Oberkörper, und sie konnte denken. Das Adrenalin hatte sie wach gemacht, eine Injektion Power direkt in die grauen Zellen.
Sie ballte ihre Hände, machte eine Drehung, fuhr zurück und spürte, wie der Lauf der Nagelpistole von ihrem Hals rutschte, als sie Ray den Ellenbogen in den Bauch stieß. Sie hörte den Knall komprimierter Luft und ein fernes Klimpern, als ein Nagel auf den Asphalt aufschlug – und sie schrie innerlich vor Zorn. Er hat abgefeuert. Das Arschloch hat tatsächlich abgefeuert .
Wütend wand sie sich hin und her, versuchte nicht, sich aus seinem Griff zu lösen, sondern sich in seiner Umklammerung zu halten. Stieß ihre Ellenbogen gegen den Arm, der die Waffe hielt, sodass er kaum mehr zielen konnte. Er konnte ihr immer noch das Ding in die Rippen rammen und einen Nagel durch sie jagen, doch wenn sie sich bewegte, ihn anrempelte und mit ihren gefesselten Handgelenken an seinem Arm zerrte, wurde es schwieriger für ihn.
Dann stieß etwas Kaltes, Hartes seitlich an ihr Bein. Sie stand an der Betonbrüstung. Ray hatte sie immer weiter vorangeschubst. Sie stand am Rand des Parkdecks, nur wenige Meter neben ihr gähnte Leere.
Tony Wallaces Mahnung war wieder in ihrem Kopf. An den Seilen kannst du nicht gewinnen. Beweg dich verdammt noch mal von den Seilen weg .
Aber sie hatte gegen die verdammten Seile keine Chance, solange Ray die Waffe in der Hand hielt. Das Einzige, was ihn davon abhielt, einen Metallbolzen durch ihre Haut zu jagen, waren ihre ausgestreckten Hände, mit denen sie herumschlug und die Pistolenmündung von sich abhielt.
Dann rammte er sie mit seinem Oberkörper. Die Wucht presste sie gegen die Brüstung, sie schlug ihre gefesselten Fäuste gegen seinen Unterarm und beförderte so seine Hände, die immer noch die Waffe hielten, über das Geländer hinaus. Sie schienen eine Ewigkeit im Freien zu schweben. Aber vermutlich waren es nur Bruchteile einer Sekunde. Jedenfalls ahnte Liv, dass sie gleich darauf wieder in hohem Bogen auf sie zukommen würden.
Mit einem verzweifelten Schrei taumelte sie vor und rammte ihn noch einmal mit voller Wucht mit ihrem Ellenbogen. Spürte seinen Knochen unter ihrer Ellenbogenspitze, spürte den Widerstand des Metallgeländers darunter. Dann ein zweites Mal. Schnell und gezielt, mit einem kurzen Aufwärtshaken, sodass er nicht zurücktreten oder die Waffe in Position bringen konnte.
Er grunzte. Ein Klirren war zu hören. Die Waffe war verschwunden, in die schwarze Tiefe gefallen.
Sie verspürte so etwas wie einen Triumph, dann einen reißenden Schmerz an ihrer Kopfhaut.
Ray hatte die freie Hand in ihr Haar gekrallt und zog nun ihren Kopf herum. Mit wildem Blick rammte er seinen Kopf gegen ihren und stieß sie mit seinem Körper gegen die Brüstung, beugte sich langsam vor, drückte sie über das Geländer hinweg, das ihr in den Rücken schnitt. Schmerz durchfuhr ihre Wirbelsäule, ihre Lungen rangen nach Luft. Ihr Kopf, ihre Schultern, der Oberkörper hingen über dem Abgrund. Sie spürte die Leere unter sich und die kalte Nachtluft, die heraufwehte. Irgendwo unten hörte sie einen Knall, vielleicht kam er aus dem Parkhaus. Irgendwer musste da unten sein. Sie wollte um Hilfe schreien, doch aus ihrer Kehle drang kein Laut.
Ray krallte seine Finger in ihre Kopfhaut und zerrte ihren Kopf herum. Er wollte, dass sie hinsah. Dass sie auf die Fahrbahn sah. Auf die Stelle, auf der sie landen würde.
»Livia, hast du jetzt Angst?«
Sie antwortete nicht. Spürte nichts als rasende Wut. Den Drang zu kämpfen. Ihre Hände waren gefesselt, doch sie hatte sie zum Kinn hochgezogen, und als Ray sich vorbeugte, drehte sie ihre Handflächen nach außen, spreizte die Finger wie Klauen und zielte direkt auf sein Gesicht.
Sie grub die Nägel in seine Haut, als wäre es feuchte Spachtelmasse.
Er schrie, schloss die Augen, versuchte das Gesicht wegzudrehen, doch sie hatte ihm bereits die Nägel in das Fleisch gegraben. Er löste sein Gewicht von ihr, sie sah, wie bestürzt er war. Das hatte er nicht erwartet. Dass er so spät im Kampf noch die Kraft verlieren würde. Noch dachte er nicht daran zurückzuschlagen, wollte nur sein Gesicht in
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