Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
denkst wohl, du bist in deinem Job ein ganz toller Hecht, aber du bist ein Versager.«
Er drehte sich um.
Das war immerhin ein Anfang. »Du hast mich nicht beschützt. Ich wurde letzte Woche zusammengeschlagen. Warum hätte ich dich danach um Hilfe bitten sollen?«
Er machte einen Schritt zurück in den Flur. Ein Hauch Unsicherheit lag um seinen Mund. »Lüg mich nicht an, Livia. Du bist hier. Du bist zu mir gekommen.«
»Ich bin gekommen, um das verdammte Telefon zu benutzen. Ich dachte, Daniel sei der Täter. Du hast zugelassen, dass er die Anerkennung für alles bekam. Du hättest mich vor ihm schützen, mir sagen können, was er vorhat, aber du hast deinen Job nicht erledigt.«
Ray sah erst Daniel, dann Liv an, zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet. Er war verwirrt und verärgert. Er nahm seine Hand von der Klinke und ließ die Tür wieder zurück ins Schloss fallen.
Liv, hör jetzt nicht auf. Lock ihn vom Ausgang weg. Lenk ihn ab, sodass er nicht mehr an Cameron und Dad denkt. Mach ihn so richtig wütend. Auf dich, nicht auf andere. »Du hast mir noch nicht mal Angst eingejagt. O. k., du hast mich Zeit gekostet. Aber weißt du, was ich gedacht habe, als ich Teagan auf dem Autodach liegen sah? Ich dachte nur, Gott sei Dank, dass ich nicht da liege. Ich hatte keine Angst. Ich war nur froh, dass es mich nicht getroffen hatte.«
Ray leckte sich die Lippen und kniff die Augen zusammen.
»Und jetzt?«, provozierte sie ihn weiter. »Jetzt willst du mich hier zurücklassen, losziehen und jemand anderem was antun. Was wirst du deinen acht Facebook-Freunden erzählen? Dass du einer Frau einen riesigen Schrecken eingejagt hast, weil du sie mit einem verletzten, unbewaffneten Mann in einen Flur gesperrt hast? Na klar. Mächtig gruselig.«
Er stürmte auf sie zu, Sieger und Folterknecht in einem. Als er sie mit dem Handrücken schlug, fühlte es sich wie eine Dampfwalze an. Es riss ihren Kopf herum. Ihre Halswirbel knackten. Ihr Ohr fühlte sich an, als hätte er es zerquetscht, ihre Wangen und Lippen brannten.
»Du. Sollst. Nicht. Aufsässig. Sein!«, brüllte er.
Sie hatte Blut im Mund. In ihrem Kopf drehte sich alles, es klingelte in ihren Ohren. Ray lief auf und ab, atmete schwer und schnell. Unten im Flur kämpfte Daniel hinter seinem Rücken mit den Fesseln, zog und zerrte verzweifelt daran.
Ray schürzte die Lippen, fletschte die Zähne und schrie sie an. »Das ist alles nur wegen dir! Du musst endlich kapieren, was dir alles passieren kann. Wie schnell du dein Leben verlieren kannst.«
Es gelang ihr trotz ihrer Fesseln, leicht mit den Schultern zu zucken. »Aber du wirst mir nichts tun. Warum sollte ich also Angst haben?«
Er packte sie an den Haaren, zog die Nagelpistole aus dem Gürtel und steckte den Lauf unter ihr Kinn. »Und jetzt, Livia?«
45
Liv keuchte heftig. Der Druck der Waffe presste ihre Kiefer zusammen und die Zunge an den Gaumen. Ein Zucken seines Fingers am Abzug würde einen Nagel durch ihr Gehirn bohren.
Sie wollte nicht sterben. Nicht hier. Und nicht so. Nicht durch Rays pathetische, beschissene Hände. Aber vielleicht war es die einzige Chance, um ihn von Cameron und ihrem Vater fernzuhalten. Wenn sie tot war, hätte es keinen Sinn mehr, andere zu verletzen. Wenn sie tot war, konnte sie keine Angst mehr haben.
Sie starrte in seine irren Augen und fragte sich, ob das wohl das Ende war. Der tiefste Punkt des beschissenen Loches, in dem sie saß. Der Ort, auf den sie seit zwölf jämmerlichen Monaten zusteuerte. Würde sie mit gefesselten Händen und Füßen sterben? Ohne eine Chance, sich zu wehren? Ohne ihm einen einzigen Schlag versetzen zu können? Sie dachte an all die Jahre, die sie an der Seite ihres Vaters verbracht und seinen Lehren gelauscht hatte. Liv, gib niemals auf. Das Leben ist eine lange Runde. Es gibt mehr Runden, als du dir vorstellen kannst. Du musst immer weiterkämpfen, denn nur so kann man leben . Und nun war sie hier gelandet, auf ihrem Hintern, und wartete darauf, dass ein debiles Arschloch ohne Freunde ihren Kampf in ihrem sechsunddreißigsten Lebensjahr beendete. Ihren Sohn zum Waisen machte und ihren Vater mit gebrochenem Herzen auf dem Sterbebett zurückließ.
Tony Wallace hatte sie gelehrt, Mut zu haben und der Angst, dem Schmerz und der Qual ins Auge zu sehen. Gut, Dad, der Mut der Verzweiflung war alles, was ihr geblieben war. Keine Fäuste, keine Abwehr, nichts sonst. Ray wollte sie panisch vor Angst sehen, zur Hölle mit ihm.
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