Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
mein erster Gedanke, alle Autobiographien in meiner Buchhandlung zu entfernen. Ich musste meinen Laden säubern. Alles Lügen! Ich konnte mich nicht einmal an einen dramatischen Vorfall erinnern, der nur kurze Zeit zurücklag, wie sollte es da möglich sein, sich an sein ganzes Leben zu erinnern? Lügen! Vielleicht ist das die Definition von Autobiographie: Dialektische Lebenslüge. Die Lüge, die zur Gewissheit wird. Die Genauigkeit, die am Ende als Unwahrheit erscheint.
    Ich stand auf, zündete mir eine Zigarette an und stellte mich vor den Aschenbecher. Da kam es zu Aufregung und Geschrei. Die beiden Frauen standen plötzlich vor mir, die jüngere schrie mich an: Ich sei schuld, dass der Verbrecher, der ihre Mutter fast ins Grab gebracht habe, freigekommen sei. Der Verbrecher laufe nun wieder frei herum – sie sagte immer wieder Verbrecher, und die Alte sagte: »Komm, Liesi, komm!«
    Es gehöre untersucht, ob ich mit dem Verbrecher nicht unter einer Decke stecke, und die Alte: »Komm, Liesi, komm!«
    Ich sagte zu der Frau, dass ich es gewesen sei, der sich um ihre Mutter gekümmert, ihr geholfen habe und – »Der Verbrecher!« … und dass ich das Urteil bedaure und – »Der Verbrecher kommt jetzt davon, und wir schauen durch die Finger, kein Ersatz für die Tasche, das Bargeld, kein Schmerzensgeld, nichts!«
    Die Alte zupfte ihre Tochter am Ärmel. Da kam ein Gerichtsdiener.
    Heißt das so? Ist ein Mann, gekleidet in einen Zwitter aus Anzug und Uniform, der sich in einem Gericht machtlos wichtig macht, ein Gerichtsdiener?
    »Hier ist Rauchen verboten!«
    Ich sah ihn an. Das war der Moment, wo ich, ich muss es gestehen, nicht mehr bei Sinnen war. Was war das für ein Mensch? Was ist ein Gerichtsdiener? War das überhaupt ein Berufswunsch? Gibt es Kinder, die auf die Frage, was sie werden wollen, wenn sie groß sind, »Gerichtsdiener!« antworten? So etwas Verächtliches! Nicht einmal eine gescheiterte Existenz. Eine gescheiterte Existenz hätte mein Mitleid erweckt, ein Mensch, der etwas werden wollte, aber an den Umständen gescheitert ist. Aber dieser Mensch hatte nichts werden wollen. Er wollte etwas sein. Was er war. Diener. Unterwürfig gegenüber Vorschriften, mit denen er sich herrisch aufplusterte.
    »Hören Sie nicht? Hier ist Rauchen verboten!«
    »Aber hier ist ein Aschenbecher!«
    »Aber hier steht: Rauchen verboten!«
    »Aber hier steht nicht, ob das Schild den Aschenbecher oder ob der Aschenbecher das Schild aufhebt!«
    »Hier steht: Rauchen verboten!«
    »Sie sind kein Hegelianer!«
    »Ich lasse mich von Ihnen nicht beleidigen!« Er fasste mich an der Hand, in der ich die Zigarette hielt. Ich hatte den Wunsch, ihm eine zu knallen. Zugleich musste ich lachen.
    »Komm, Liesi, komm!«
    Da bogen zwei Polizisten in den Korridor ein. In meinem Kopf, wie ein fernes Echo, die Sätze: »Wir sagen: Polizisten sind keine Menschen. Wir sagen: Polizisten sind Schweine. So werden wir sie behandeln!«
    Ich ließ die Zigarette in den Aschenbecher fallen, sagte: »Ist gut! Ist ja gut!«
    Die beiden Polizisten gingen an uns vorüber.
    Ich hatte das Gefühl, dass ich fieberte.
    Als ich in mein Geschäft zurückkam, nahm ich das »Komme um«-Schild ab und hängte das »Geschlossen«-Schild an die Tür. Da fiel mir das Formular für den »Verdienstentgang« ein. Ich hatte es im Gericht auf der Bank liegengelassen.
    Ich nahm eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank. Stammgäste bekamen bei mir, wenn sie in den Büchern schmökerten, ein Glas Wein oder einen Kaffee. Ich hatte ein Alkoholproblem. Ich hatte es unter Kontrolle.
    Ich trank im Lauf des restlichen Nachmittags eine Flasche. Dann, in die Dämmerung hinein, eine zweite. Ich saß da in meiner Buchhandlung, an meinem Schreibtisch, rauchte, trank und starrte die blauen Bände an.
    Komm, Liesi, komm!
    Ich war ein feiges Kind. Ein kleiner, kurzsichtiger, unsportlicher Schüler, der nie »mitmachen« durfte. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mitmachen wollte. Aber ich nehme es an. Allerdings schiebt sich die Verachtung, die ich heute für alle empfinde, die mitmachen, vor die Erinnerung. Während die anderen eine Fußball-Mannschaft aufstellten, in die ich von keinem Kapitän freiwillig gewählt wurde, versuchte ich, eine Karl-May-Aufstellung zu machen. Ich hatte, noch vor meinem zehnten Lebensjahr, 35 Bände Karl May gelesen und galt als anerkannter Spezialist, allerdings auf einem Gebiet, das von den meisten belächelt wurde. Eine Karl-May-Aufstellung war im Grunde

Weitere Kostenlose Bücher