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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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so etwas wie – heute würde ich sagen: – eine »Familien-Aufstellung«, nur eben mit Karl-May-Figuren. Dieses Spiel hatte ich erfunden. Aber wenn ich Mitspieler fand, dann waren sie größer und stärker als ich, weil alle größer und stärker als ich waren, und sie beanspruchten die Rollen von Old Shatterhand, Winnetou, Old Firehand oder Old Surehand für sich. Ich sollte Nscho-tschi sein, die Schwester Winnetous. Wir waren eine reine Bubenschule. Ich durfte nicht Sam Hawkens sein, der lustige Freund von Old Shatterhand und Winnetou. Mein Spiel war kein Erfolg. Der Versuch, eine Bande guter Helden zu gründen, scheiterte. Ich sah mich bald völlig isoliert. Was blieb, war Gewalt. Die Lust, auf jemanden einzutreten, der auf dem Boden lag.
    Ich war der, der auf dem Boden lag.
    Blöde Erinnerungen. Wie war es wirklich?
    Es war wirklich. So. Auch wenn ich es nicht mehr genau sah. Nur das, was man sieht, wenn man solche Sätze denkt. Ich habe Gewalt kennengelernt. Ich wurde in der Hauptschule oft verprügelt. Ich war kein »Raufer«. Ich wurde einfach geschlagen. Warum habe ich nie zurückgeschlagen? Mit dieser Erfahrung begründete ich den Satz: »Ich hasse Gewalt.« Ich war der, der nickte, wenn Pazifisten redeten. Man könnte auch sagen, ich war feig.
    Zum Glück. Ich war ein Leser. Ich begann eine Buchhändlerlehre. Ich las andere dicke Bücher. In der Buchhandlung Bacher im ersten Bezirk war ich, abgesehen vom alten Herrn Opocensky, einem müden und traurigen Sozialisten, der einzige Mitarbeiter, der las. Herr Opocensky gab mir immer wieder Bücher aus seiner privaten Bibliothek, Ignazio Silone oder Panait Istrati, gewaltige Literatur, Weltliteratur, für die es heute keine Welt mehr gibt. Weil die Mitfühlenden ausgestorben sind wie so viele andere Arten.
    Das Elend, die Armut, die Erniedrigung der Menschen. Ich musste weinen, als ich diese Bücher las. Ich war jung, wollte Spaß im Leben, und las Bücher, bei denen ich weinen musste.
    Das stimmt nicht. Ich hatte auch Spaß. Na ja, Spaß.
    Ich habe den Verdacht, dass Mitgefühl einer unappetitlichen Voraussetzung bedarf: des Selbstmitleids.
    Ich trank. Da klopfte jemand an die Tür. Ich sah durch das Glas den Kunden, den ich am Vormittag weggeschickt hatte, als ich zum Gericht musste. Ich tat so, als merkte ich nichts. Er hatte mich gesehen. Er musste auch gesehen haben, dass ich ihn gesehen hatte. Er klopfte und gestikulierte aufgeregt. Also sperrte ich auf und sagte: »Geschlossen!«
    »Wann haben Sie denn geöffnet?«, fragte er. »Ich habe durch die Auslage die blauen Bände gesehen, da hinten …«, er wollte an mir vorbei, »und …«
    Ich verstellte ihm den Weg. »Unverkäuflich!«, sagte ich, und: »Geschlossen!«
    Das ist natürlich nicht wahr. Es passt nur in diese Geschichte. Allerdings, wer weiß? Es ist so wahr wie jede Erinnerung. Ich war nun völlig – Wo war ich stehengeblieben? Ich trank.
    Liesi. Zufällig hieß so meine erste Freundin. Ich lernte sie im »Atrium« kennen, einer Disco, in die ich damals ab und zu ging, weil ich dachte, man müsse Orte aufsuchen, von denen es hieß, dass man dort Mädchen kennenlernt. Ich wusste damals noch nicht, dass man Mädchen auch an Orten kennenlernt, die einen interessieren.
    Ich fragte sie, ob sie tanzen wolle.
    Sie sagte, dass ich aussehe wie Schubert.
    »Warum?«
    »Die Locken, der zusammengesparte Bart …«
    Hatte Schubert einen Bart? Ich sagte: »Da hättest du auch sagen können: wie Che Guevara!«
    »Na ja«, sagte sie. »Che Guevara. Miniaturausgabe!«
    Sie war auch Buchhändlerin. In der Lehre. Ich war beeindruckt von der listigen Vernunft des Schicksals.
    Wir zogen zusammen. Mit unseren Lehrlingsentschädigungen konnten wir uns unmöglich eine eigene Wohnung leisten. Wir fanden ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Im Zimmer waren wir Liebende. Wenn wir das Zimmer verließen, waren wir Sympathisanten.
    Es war eine WG linker Studenten. Das war im Jahr 1976. Ewig diese Diskussionen in der verrauchten Küche. Organisation, ja oder nein? KP oder Trotzkisten? Bewaffneter Kampf, ja oder nein? Liesi und ich waren die einzigen in dieser WG und dem dazugehörigen WG-Netzwerk, die nicht studierten. Wir hatten dadurch eine enorme Bedeutung. Wir waren das Proletariat. Wir waren die Massenbasis und zugleich die Heiligen. Wir waren irgendwie Kult in dieser Szene. Mir stieg das zu Kopf. Ich wurde in meiner Phantasie zum Studentenführer .
    Selbst in der reaktionären Buchhandlung im ersten Bezirk, in der

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