Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
verrichten musste und wenig zu essen bekam. Die Kommunisten hatten alle seine Bücher verbrannt, vor allem die ausländischen Fachbücher, die er wie einen Schatz gehütet hatte. Gleichwohl betrachtete er sich nicht als Opfer. Weder beklagte er sich über verpasste Chancen, noch jammerte er über scheinbar verlorene Jahre und erlittene Ungerechtigkeiten oder nährte Hass, Bitterkeit und Rachegefühle. Professor Han liebte sein Land, sein Volk und den Platz, auf den das Berufsleben ihn gestellt hatte. Vor allem aber gehörte er sich selbst. Er genoss jeden Tag, der ihm einigermaßen gesund vergönnt war, und nutzte seine Zeit, um zu forschen, juristische Fachbücher und Artikel zu schreiben und sich mit jungen Studenten wie mir zu unterhalten. Auf seine ganz eigene Art war er ein subversives Element auf dem Campus. Kein noch so agiler Studentenführer hatte einen ähnlichen Tiefgang. Ich fragte mich damals, ob ich je in der Lage sein würde, so in mir selbst zu ruhen und mein Berufsleben in einen größeren Kontext einzuordnen. Professor Han verriet mir nicht, wann er bei sich selbst angekommen war, wie viele Irrwege er gegangen war, was er erlitten hatte, wann er aufgehört hatte, zu urteilen und sich zu beklagen, und wie oft er auf seinem Weg hatte abbiegen oder umkehren müssen. Erst später verstand ich, warum.
Jeder von uns ist einzigartig und das gilt auch für unseren beruflichen Weg, oder nennen wir es besser Bewusstwerdungsprozess.
Professor Han öffnete mir das Tor zu einem tief gehenden Verständnis der Dinge einen Spaltbreit, ließ mich einen Blick auf die andere Seite werfen und machte mich neugierig. Und ich genoss meine Zeit in China trotz aller Härten und Unbilden.
Mit meiner Rückkehr nach Deutschland verfiel ich allerdings wieder in jenen Stechschritt, der auf rein materiellen Wohlstand zusteuert, in das logisch-analytische Kausaldenken und zielstrebige Handeln um des unmittelbar greifbaren Erfolges und Ansehens willen. Ich nahm mich selbst wieder äußerst wichtig, denn mein berufliches Umfeld bestand nur aus Menschen, die das auch taten. Schmerzlich vermisste ich die Gespräche mit Prof. Han und die Wegweiser, die ich ihnen entnahm. Ich beendete meine Doktorarbeit, die von einem namhaften Verlag veröffentlicht wurde, und schrieb weitere Fachaufsätze. Meine Welt in Deutschland schien von außen betrachtet in Ordnung, das Endergebnis meiner Forschungsarbeit in China gestaltete sich sogar besser als je erträumt. Niemand bemerkte indes, dass ich unter einem Kulturschock litt. Die über Wohlstandsprobleme und Freizeitstress lamentierenden Menschen in meiner Umgebung machten es mir schwer, mich emotional und geistig wieder in Deutschland zurechtzufinden.
Gleichwohl schloss ich meine internationale Ausbildung zur Volljuristin ab. Meine ursprüngliche Motivation, Richterin zu werden, löste sich während meiner Zeit als Rechtsreferendarin vollständig in Luft auf. Ich realisierte, dass meine Ausbilder am Landgericht und Oberlandesgericht sowie bei der Staatsanwaltschaft mehr mit sich selbst beschäftigt waren als mit den Inhalten ihrer Arbeit. Einer sagte mir sogar ins Gesicht, er habe sich für den Staatsdienst entschieden, weil er eine sichere Anstellung bevorzuge. Die Arbeit selbst interessiere ihn nicht. Ich wandte mich verwirrt und verständnislos ab. Mit absoluter Disziplin absolvierte ich diese, aus meiner Sicht dumpfesten drei Jahre meines Berufslebens und machte mein zweites juristisches Staatsexamen.
Dann begann meine Karriere als angestellte Wirtschaftsanwältin für Fusionen und Übernahmen mit Schwerpunkt China bei der Hamburger Sozietät Schön Nolte, die heute zu Latham & Watkins gehört. Ich war überzeugt, bei mir selbst angekommen zu sein. Hier blühe ich auf, dachte ich. Ein Denkfehler, wie sich herausstellen sollte. Ein Hamburger Kaufmann, sagt man scherzhaft, kann jeden Anzug tragen, Hauptsache er ist dunkelblau. Als Wirtschaftsanwalt gilt es bestimmte Verhaltensweisen zu leben, die dieser Farbe entsprechen. Ich bin eher der Frühlingsfarbentyp: bunt, fröhlich und vielfältig. Hier jedoch hatte ich mich auf dunkel, sprich detailliert, strukturiert, sachlich distanziert und perfektionistisch eingelassen. Ich arbeitete gegen mein Wesen an und tappte dabei in vier Fallen. Die erste Falle war mein Bestreben, alles perfekt machen zu wollen. Der Partner, dem ich zuarbeitete, beherrschte diese Disziplin, weil er ein natürliches Talent dafür hatte. Ich beherrschte sie nicht. Die
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