Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
zweite Falle war meine innere Überzeugung, als engagierte Juristin keine andere Wahl zu haben, als mein berufliches Zuhause in einer derart hochleistungsorientierten Umgebung zu suchen. Die dritte Falle bestand darin, dass ich ein unvollständiges Selbstbild aufrechterhielt, in dem Wesen, Talente, Fähigkeiten und Aufgaben einander zum damaligen Zeitpunkt nicht ergänzten. Die vierte und für den folgenden physischen Kollaps wahrscheinlich ausschlaggebende Falle war, auszuharren, keine Alternativen zu bedenken und nicht aktiv nach ihnen zu suchen, obwohl sich etwas in mir wehrte und dem widersetzte, was ich täglich viele Stunden lang tat.
Nach zehn Jahren juristischer Ausbildung kam ich nicht auf den Gedanken, dass ich auch auf eine ganz andere Art und Weise beruflich Spaß haben, erfolgreich sein und Geld verdienen konnte. Wirtschaftsanwalt war schließlich ein krisenfester und angesehener Beruf. Also trachtete ich über die jährlichen Messlatten der Angestellten auf dem Weg hin zum Partner der Kanzlei zu springen, teils mit letzter Energie, teils mit absoluter Disziplin und vielfach auch mit innerem Widerwillen. Ich war immer müde, kaputt und ausgelaugt. Während mein Mann am Wochenende gern etwas mit mir unternehmen wollte, hatte mein Körper nur das Bedürfnis, zu schlafen und auszuruhen. Gleichzeitig schlief ich unruhig, was mir noch mehr Energie raubte. Aber ich realisierte nicht, dass etwas mit mir nicht stimmen könnte, dass dies nicht normal und gesund war. Schließlich waren auch alle meine Kollegen viele Stunden jeden Tag und häufig auch an den Wochenenden vom Beruf vereinnahmt. Alle bezahlten dafür mit einem kaum, einige mit einem gar nicht existierenden Privatleben.
Als Wirtschaftsanwalt bewegte ich mich in einem Umfeld von analytisch und konzeptionell scharfsinnig denkenden Menschen. Mein Talent auf diesem Gebiet ist mittelmäßig ausgeprägt. Wer viel denkt, der denkt nicht automatisch auch analytisch exzellent. Während sich meine Vorgesetzen und Kollegen an fachlichen Fragestellungen begeisterten und darin aufgingen, juristisch und wirtschaftlich exzellente Verträge auszutüfteln und zu verhandeln, standen bei mir der Mandant als Mensch und das Umfeld, in dem die juristische Beratung einen erfolgreichen Beitrag leisten sollte, im Vordergrund. Ich war der Guide durch die chinesische Kultur und ein gänzlich anderes wirtschaftliches Verständnis, aber auch die deutsche Anwältin. Als Exotin unter den Hamburger Anwälten tat ich, was ich für richtig hielt, und schwamm als kleiner Fisch im Teich der großen Hechte irgendwo am Rande mit.
Was niemand sieht, sehen will oder worauf uns zumindest niemand anspricht, ist unser Innenleben.
Martina Violetta litt im Stillen. Martina, was »die Kämpferin« bedeutet, kämpfte mit sich, dem Anwaltsberuf und den Tränen, aber immer heimlich. Ich war hart und unnachgiebig mit mir selbst. Ich zwang mich, mich in juristische Fachgebiete einzuarbeiten, die mich nicht interessierten, und Fachzeitschriften zu lesen, deren Inhalt ich kennen musste, aber nicht kennen wollte. Disziplin ließ mich in der Außenwelt funktionieren und innerlich erstarren. Violetta, was »die Verletzliche« bedeutet, unterdrückte ihre Bedürfnisse und Gefühle, ihre Weiblichkeit und ihre verwundbare Seite. Ich erstarrte zunehmend emotional, denn meine Arbeitswelt war männlich, sachlich, faktisch, zahlenorientiert, dunkel gekleidet, distanziert und weitgehend emotionsneutral. Und ich passte mich an. Von Natur aus fröhlich und optimistisch, wurde meine unverwüstlich gute Laune bald zur perfekten Tarnmaske. Bei all meinen Erfolgen und dem bedingungslosen Einsatz im Beruf hatte ich etwas Wesentliches übersehen.
Niemand vermag dauerhaft und ungestraft sein wahres Wesen zu unterdrücken und sich immer wieder mit Disziplin und Fleiß zu etwas zwingen, was nicht seinem Talent und seinen Fähigkeiten entspricht, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen.
Als ich zweiunddreißig Jahre alt war, holte mich der physische Kollaps von einem Tag auf den anderen unsanft aus meinen beruflichen Wolken. Ich wachte eines Morgens auf und mein Körper verweigerte physisch und intellektuell den Dienst. Nieren, Milz und Leber waren genauso in ihrer Funktion gestört wie mein Sonnengeflecht und mein Herzrhythmus. Ich vermochte mich nicht mehr zu konzentrieren, konnte nicht mehr allein aufstehen und mich nicht mehr selbst versorgen. Manchmal packte mich mein Mann vom Bett aufs Sofa vor den Fernseher. Aber ich
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