Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
Das Vorstandsbüro fungierte als Stabsstelle des Vorstandsvorsitzenden, der erst kürzlich ernannt worden war. Sein Vorgänger und langjähriger Mentor wechselte zeitgleich auf die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden. Im Vorstandsbüro liefen die Fäden der Macht zusammen und Lennart erhielt Einblick in das Geheimste des Geheimen. Er arbeitete fast rund um die Uhr und genoss es. Sein Freund Sam hatte eine attraktive Anstellung bei einer englischen Versicherung in der Londoner City gefunden. Jeden Sonntagabend tauschten sie sich per Bildtelefon über die abgelaufene Woche aus und gaben einander Tipps, wie sie die jeweils folgenden Herausforderungen angehen könnten.
Lennarts Traum vom Erfolg bekam allerdings schon nach einigen Wochen einen unangenehmen Beigeschmack. Er gehörte dem Team an, das den neuen Geschäftsbericht konzipieren und ausarbeiten sollte. Unverhofft ordnete der Vorstandsvorsitzende an, im Kleingedruckten zur Arbeit des Ernennungs- und Vergütungsausschusses einen Satz über einen Beratervertrag des Aufsichtsratsvorsitzenden einzufügen. Lennart konnte es kaum glauben. Allen Mitarbeitern war eine Nullrunde beim Gehalt verordnet worden. Nur der Aufsichtsratsvorsitzende erhielt neben seiner Vergütung noch einen mit mehreren hunderttausend Euro dotierten Beratervertrag. Auch die anderen im Team runzelten die Stirn. Niemand wagte jedoch, einen Laut von sich zu geben. Lennart begriff, dass der Aufsichtsratsvorsitzende nach wie vor der starke Mann war und der Vorstandsvorsitzende nicht viel zu melden hatte.
Ein Jahr später bekam Lennart die Chance, als Verantwortlicher mit direkter Berichtslinie zum Vorstand für das operative Geschäft ein für den Konzern wichtiges Veränderungsprojekt zu leiten. Er gab Vollgas. Endlich konnte er sich und seine Kompetenz für alle sichtbar beweisen. Mit seiner offenherzigen und ehrlichen Art gelang es ihm, das Projekt in für alle Mitarbeiter verdaubare Blöcke zu strukturieren und die Menschen zu bewegen, die Veränderung mitzutragen. Lennart berichtete mit einfach strukturierten, einleuchtenden und übersichtlichen Power-Point-Präsentationen an seinen Chef und war ganz stolz auf sich. Das Hochgefühl verschwand, als ihm die Chefsekretärin vertraulich zuflüsterte, der Vorstand habe seine Abschlusspräsentationen mit seinem Namen versehen, um das gelungene Projekt in der Vorstandssitzung so zu verkaufen, dass ihm die Lorbeeren zufielen. »Arschloch!«, kommentierte Sam lakonisch, als Lennart ihm beim sonntäglichen Telefonat davon erzählte.
Als Lennart felsenfest mit der Beförderung in eine Managementposition mit klar umrissenem Verantwortungsbereich im Marketing rechnete, wurde ihm ein Mann mittleren Alters vorgezogen, der im Unternehmen den Ruf eines farblosen Mitläufers genoss. Lennart konnte es nicht fassen und hakte beim Personalchef nach. Der erklärte lapidar, es handle sich um einen langjährigen Kollegen, der außerdem Frau und zwei Kinder ernähren müsse. Seine Zeit würde schon noch kommen. Lennart beschlich das ungute Gefühl, dass das, was er sich unter Erfolg vorstellte, von vielen Faktoren abhing, die nichts mit ihm zu tun hatten. Na gut, sagte er sich, ich werde es ihnen beweisen, und legte noch einen Zahn zu. Was de facto hieß, dass er nur noch nach Hause ging, um die Wäsche zu wechseln.
Während einer Espressopause in der weiträumigen Lounge des Unternehmens hörte Lennart zufällig, wie der Marketingvorstand zum Personalchef sagte, er würde Lennart gern innerhalb der nächsten sechs Monate in seinen Verantwortungsbereich überwechseln sehen. Er verfüge über ausgezeichnete Fach- und Methodenkompetenz, bedingungslosen Leistungswillen und hohe Einsatzbereitschaft, viel Einfühlungsvermögen und bekäme auch die schwierigen Kühe vom Eis. Männer wie Lennart seien für jeden Vorgesetzten ein Geschenk im doppelten Sinne. Sie leisteten fast so viel wie zwei etablierte Manager zusammen und stellten bedeutend weniger Ansprüche, weil sie in ihrem Drang nach Karriere perfekt zu manipulieren seien. Lennart empfand dies wie einen Faustschlag ins Gesicht. So dachte der Marketingvorstand also wirklich über ihn. Lennart fühlte sich benutzt und gedemütigt. Mit schwarzgalligem Unmut mailte er einen aktualisierten Lebenslauf an vier Headhunter und verabredete sich auf ein langes Wochenende in London, um die Lage mit Sam zu besprechen. Wovon lohnte es sich beruflich überzeugt zu sein und was sollte er einem Vorgesetzten künftig noch glauben
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