Ich kenne dich
Waschbecken, und sie flitzt davon. Eier werden in eine Schüssel geschlagen, verrührt und in meinem Haar verteilt. Sie wickelt Frischhaltefolie um meinen Kopf. Ihre Fingernägel bohren sich in meine Kopfhaut, während sie drückt und reibt. Sie legt eine weitere Schicht Folie darauf, dann heiße, feuchte Handtücher, dann trockene Handtücher.
Schleim, der sich wie Rotz anfühlt und ganz eigenartig riecht, tropft in meine Ohren. Mein Nacken tut weh. Wir sehen auf die Uhr. Zwanzig Minuten, steht in der Zeitschrift, und ich werde Haare haben wie Chloe. Sie beginnt, mein Haar auszuspülen, doch das Wasser ist viel zu heiß, und die Eierpampe gerinnt. Als ich den letzten Krümel Ei aus meinen Haaren klaube und in den Abfluss schnippe, kugelt sie sich immer noch prustend auf dem Badvorleger und trocknet sich die Augen.
Ich lächle. Sie ist meine beste Freundin.
Sie war etwas Besonderes, auch schon, als sie noch am Leben war – aber nicht auf diese bilderbuchartige, reine und polierte Art, wie sie den Leuten nun in Erinnerung ist. Ihr Tod hat sie in etwas Vollkommenes verwandelt. Dabei hat sie Sachen gemacht, die ich so verkehrt und albern fand, dass ich sie gar nicht erst aus probierte. Sie föhn te sich die Haare über Kopf, benutzte parfümierte Slipeinlagen, schmierte sich Vaseline auf die Augenlider und sagte Sachen wie »T-Zone« und »Akzentfarbe« und »ein Muss für jede Handtasche«. Als Carl in unser Leben trat, erzählte sie mit rauer Stimme von Petting und Samenergüssen und Blowjobs, während ich lauschte – erregt und entsetzt und gezwungenermaßen. Sie roch nach Schweiß und Haarspray und Zigaretten, ich roch nach Bügelwasser mit Lavendelduft und Anti-Schuppen-Shampoo. Ich bin mir nicht sicher, warum das eine Rolle spielte, aber das tat es.
Der Prozess, aus Chloe eine Heilige zu machen, begann im Jahr 1998.
Eine Trauerfeier war nicht genug. Sie benannten eine Rose wegen ihr. Wegen ihr, nicht nach ihr, denn es gab bereits eine Chloe-Rose: nach einem anderen toten Mädchen. Sie tauften die Rosenart »Juliet«, nach einem besonders bewegenden Fernsehkommentar von Terry, den wir alle nie vergessen werden und den manche von uns aufgezeichnet haben, um ihn sich immer wieder ansehen zu können. Chloe war also nicht sie selbst – sie stand für etwas anderes. Und sie stand dafür mit einem anderen Namen und einer vierhundert Jahre alten Geschichte, die nicht einmal wahr war. Es störte niemanden.
Die Lehrer pflanzten die Juliet-Rosen in die nagelneuen Blumenbeete der Schule und drängten sich auf den Gängen zusammen, um über Chloes Ableben zu reden. Keiner arbeitete richtig in den ersten Wochen. Stundenpläne und Hausaufgaben, Bunsenbrenner und Hockeyschläger, Winkelmesser und Schmierhefte – alles normale Gegenstände, aber in der Schule starrten wir Übriggebliebenen darauf, als wären es fremde Dinge, deren anhaltende Existenz Chloes Andenken beleidigte. Wir räumten sie weg und schlichen über die Flure, flüsternd. Sogar von den Jungs weinte einer. Die Lehrer kamen spät, mit dunklen Schatten unter den Augen. Sie ließen sich beim Rauchen auf dem Parkplatz sehen und taten so, als wäre ihnen aufgefallen, dass sie immer schmaler geworden war – ihre aufgesprungenen Lippen und die dünnen Haare.
Außerdem gab es eine Untersuchung. Die Schulaufsicht oder der staatliche Gesundheitsdienst. Damals gehörte das zu den obligatorischen Maßnahmen, selbst in einer Stadt wie unserer, wo wir Terry hatten und unsere eigene Art, die Dinge zu regeln. Hätte jemand einschreiten sollen? Hätte man sie überreden können, mit Patsy zu sprechen? Wo war ihre Ärztin in der ganzen Zeit? Wo ihr Vertrauenslehrer? Der Rektor? Das half. Es hielt das Interesse monatelang aufrecht, mit Zwischenberichten und vorläufigen Ergebnissen und abschließenden Empfehlungen zur Ernährung und seelischen Gesundheit von Jugendlichen und mit Hinweisen auf offene Beratungsstellen ( Chloe House ) – bis sie schließlich berühmt war.
Und die Sache ist die – ich wurde auch berühmt, weil ich ihre beste Freundin gewesen war. Emma genauso. Wir wurden ständig angequatscht. Die Leute waren freundlich. Es waren so viele Fotos von uns in der Zeitung und in Terrys Sendung – und genau das ist der Grund, warum es mir nichts mehr ausmacht, draußen meine Brille zu tragen, die ich früher immer zu Hause ließ und dabei in Kauf nahm, alles verschwommen zu sehen. Ich lasse meine Haare wachsen und verstaue sie wie Rastalocken unter großen
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