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Ich klage an

Titel: Ich klage an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Konflikte zu bewältigen. Daß dafür Worte nötig sind. Daß deshalb das Wort, das freie Wort, der Schlüssel zu einer stabilen Gesellschaft ist.
    Gerade hier in Europa lernen Migranten wie ich das freie Wort kennen, ohne daß dem ernste Sanktionen folgen: Ächtung, Gefangenschaft, Bücherverbrennungen, Leseverbot oder Enthauptungen. Noch jeden Tag lerne ich, manchmal schmerzlich, die Wirkung von Worten kennen: daß sie verletzen, beleidigen, Mißverständnisse hervorrufen, aber auch aufklären, erklären und erhellen können. Für Zuwanderer aus Ländern, in welchen es kein Recht der freien Meinungsäußerung gibt, wird es schwierig sein, mit diesen Freiheiten umzugehen. Schwierig, aber notwendig.
    Wir brauchen Worte, um unsere Gegenwart zu begreifen. Wir brauchen Worte, um unsere Vergangenheit zu verarbeiten. Worte, um das Aufeinanderprallen der Loyalitäten, das
    Gefühl, zwischen zwei Welten zerrissen zu werden - und das bringt die Erfahrung der Migration mit sich -, deuten zu können. Worte, um unsere Einsichten über unsere Kulturen und Religionen zu beschreiben, die Mitursache dafür sind, warum wir Haus und Hof verlassen haben.
    Weil ich eine Migrantin in Europa bin, bin ich imstande, die Lebensweise in meinem Heimatland mit jener im Land meiner Zukunft zu vergleichen. Ich brauche Worte, um meine Beobachtungen mit meinen Schicksalsgenossen zu teilen. Um ihnen zu sagen: Vielleicht sind die Normen und Werte unserer Eltern, ihre Religion nicht ganz so phantastisch, wie wir immer gedacht haben.
    Ich sagte es bereits: In letzter Zeit gerate ich regelmäßig in merkwürdige Situationen, und das Leben zerrt mich einfach irgendwohin. Aber ich weiß wohl, wo das Leben begonnen hat: im Krankenhaus Digfeer in Mogadischu, heute schwer beschädigt durch Kriegsgewalt. Noch immer stelle ich mir die Frage: Für wie viele Kinder, die dort zur selben Zeit wie ich geboren wurden, ist es eigentlich gut ausgegangen?
    Der Jungfrauenkäfig
    Die arabische Kultur - die sich durch den Islam auch in nichtarabischen Gesellschaften verbreitet hat - ist im Vergleich zum Westen in vielerlei Hinsicht rückständig. Es besteht Aussicht auf Verbesserungen - auch wenn diese nur mühsam vorankommen. Die von arabischen Wissenschaftlern im Auftrag der Vereinten Nationen verfaßten Berichte mit dem Titel Arab Human Developments stellen einen ersten Schritt in die richtige Richtung dar. In diesen in den Jahren 2002 beziehungsweise 2003 vorgelegten Berichten werden die Probleme beim Namen genannt. 1 Die Verfasser stellen fest, daß in der arabischen Welt die Freiheit (des einzelnen), Bildung und Frauenrechte noch immer zu kurz kommen. Der noch vorhandene Reichtum gründet sich ausschließlich auf die Ölvorräte, die von westlichen Unternehmen gefördert werden, während sich das Wirtschaftswachstum auf dem weltweit niedrigsten Stand befindet (mit Ausnahme des südlichen Afrika) und das Analphabetentum ein weitverbreitetes und zählebiges Phänomen ist. In der arabischen Welt werden alljährlich höchstens 300 ausländische Bücher übersetzt und veröffentlicht (während allein in den Niederlanden jedes Jahr 5000 neue Übersetzungen erscheinen). Auch die Lage der Menschenrechte läßt sehr zu wünschen übrig. Die staatlichen Behörden in den arabischen Ländern wenden ebenso Gewalt gegen die eigene Bevölkerung an wie die verschiedenen Bevölkerungsgruppen untereinander. Die Bürger werden unterdrückt, und nirgendwo auf der Welt ist es nach meinem Dafürhalten um die Position von Frauen so schlecht bestellt wie in der islamischen Welt. In den UNO-Berichten wird konstatiert, daß Frauen praktisch ganz vom öffentlichen und politischen Leben ausgeschlossen sind und die Gesetzgebung sie in den Bereichen Ehe, Scheidung, Erbrecht und Ehebruch extrem benachteiligt.
    Die Lage in der islamischen Welt spiegelt sich im kleinen in der Stellung der muslimischen Zuwanderer in Westeuropa (auch in den Niederlanden) wider. 2 Muslime, die nach Westeuropa ausgewandert sind, haben ihre Überzeugungen mitgebracht. Eine Tatsache springt ins Auge: Westliche Muslime sind in den Gefängnissen ebenso überrepräsentiert wie ihre Opfer - muslimische Frauen - in den Anlaufstellen für mißhandelte Frauen und als Klienten bei den Sozialarbeitern. Viele Muslime schneiden im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt schlecht ab. Sie nutzen die im Westen angebotenen bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Instrumente kaum und profitieren nur in unzureichendem Maße von den

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