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Ich klage an

Titel: Ich klage an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Befreiung von der deutschen Besetzung in Indonesien mitleidlos verhalten haben? Das ist für mich noch immer schwer zu begreifen.
    Die erneute Diskussion über Freiheit, Sicherheit und vor allem über das Recht der freien Meinungsäußerung ist nach der Ankunft der Migranten in voller Heftigkeit entflammt. Unter den Zuwanderern aus Ländern mit anderen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und an die Europäer gibt es große und kleine Konflikte, und fast jeder Konflikt weckt bei den gebürtigen Niederländern Erinnerungen an etwas, das mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat: Losungen und politische Programme rechtsextremistischer Parteien bringen uns zu Hitlers Razzien zurück: Oje, nie wieder Auschwitz. Araber der dritten Generation in Europa, die sich mit ihren sogenannten arabischen Brüdern in Palästina identifizieren, rufen bei den Demonstrationen auf dem Dam in Amsterdam mit ein bißchen zuviel Überzeugung: »Hamas, Hamas, Juden in das Gas!«
    Jeder Migrant ist innerlich zerrissen wegen der Loyalität zu seinem Heimatland, seiner Familie und Vergangenheit einerseits und der Loyalität zu seinem gegenwärtigen und künftigen Land andererseits. Von Kindesbeinen an habe ich nur bösartige Reden über Juden gehört. Meine früheste Erinnerung stammt aus Saudi-Arabien Mitte der siebziger Jahre. Gelegentlich kam kein Wasser aus der Leitung. Dann hörte ich, wie meine Mutter unserer Nachbarin völlig zustimmte, daß sich die Juden wieder böswillig betätigten. Angeblich haßten die Juden Muslime so sehr, daß sie alles daran setzten, uns verdursten zu lassen. »Jude« ist im Somalischen und im Arabischen das schlimmste Schimpfwort. Später, zur Zeit meiner Pubertät, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, beteten wir in Kenia und in Somalia in jedem Gebet um die
    Ausrottung der Juden. Stellen Sie sich vor: Das ist fünfmal am Tag. Während wir aus ganzem Herzen um ihre Vernichtung beteten, hatten wir noch nie einen Juden kennengelernt. Mit diesem Hintergrund und mit meiner Loyalität gegenüber der politischen, kulturellen und religiösen Variante des Islam, die ich (und Millionen anderer mit mir) aus meiner Vergangenheit in mir trage, kam ich in dieses Land. Hier lernte ich, Juden völlig anders zu sehen. Als Menschen in erster Linie. Aber schwerwiegender fand ich das maßlose Unrecht, das Menschen, die man zu »Juden« abgestempelt hatte, angetan wurde. Der Holocaust - und was ihm an Antisemitismus vorausging - kann mit keiner anderen Form der ethnischen Säuberung verglichen werden. Darin ist die Geschichte der Juden in Europa einzigartig.
    Weniger einzigartig ist die Motivation und Entschlossenheit, mit der Menschen, wo auch immer, weiterhin Völkermord begehen. Die Hutus gegen die Tutsis in Ruanda und die Serben gegen Muslime im ehemaligen Jugoslawien sind Beweise für die Fähigkeit der Menschen, sich unter dem Banner des Hasses zu organisieren und entsprechend zu handeln. Einer solchen Eruption von Aggression gehen Einschüchterungen voraus, Unterdrückung und fehlende Freiheit. Manchmal verursacht von einer Regierung, manchmal (und immer häufiger) weil es keine gibt. Vor dem Prozeß der Kultivierung von Haß, der Organisation des Hasses und dem entsprechenden Handeln liegt eine lange Zeit der Überlegung. Dissidenten, die erkennen, daß Vernichtungsaktionen vorbereitet werden, leisten dagegen Widerstand, versuchen zu warnen und andere zu bewegen, sich nicht an diesem Tun zu beteiligen. Dafür braucht es ein Klima und Institutionen, die Redefreiheit garantieren.
    Ich bin nicht die einzige Migrantin, die auf der Suche nach
    Freiheit in die Niederlande, nach Europa oder in den Westen gekommen ist. Es sind Millionen. Sie kommen in Flugzeugen mit Hilfe von Menschenschmugglern, denen sie dafür ihr ganzes Hab und Gut verkaufen. Migranten aus Ländern ohne Freiheit kommen in Lastwagen, legen tagelange Märsche zurück oder schaukeln in morschen Booten über das Meer. Tausende von Menschen sind auf dem Weg nach Europa gestorben.
    Was Europa in den vergangenen achtundfünfzig Jahren durch das Gedenken an seine Toten und das Feiern seiner Freiheit geschaffen hat, ist das Bewußtsein, daß Freiheit -und damit Frieden - ständiger Anstrengung bedarf, Pflege nötig hat. Das Erleben der eigenen Identität und die Anerkennung von Pluralismus sind erst dann tatsächlich möglich, wenn die Rechte eines jeden Individuums gewährleistet sind. Und wenn die Einsicht herrscht, daß Zusammenleben nichts anderes ist, als

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