Ich klage an
Nieuwspoort ist das Restaurant im Keller der Zweiten Kammer des Parlaments, wo Journalisten Politikern etwas zu trinken spendieren können, ohne sie jedoch gleich zitieren zu dürfen. Dort kam ein netter, sympathischer Herr vorbei und fragte mich, ob ich am 4. Mai etwas zur Meinungsfreiheit sagen wolle.
Der sympathische Herr heißt Caspar Bakx und ist der frischgebackene Geschäftsführer des Nieuwspoort. Er finde es merkwürdig, sagte er, daß ich bedroht werde, weil ich von meinem Recht Gebrauch mache, in den Niederlanden meine Meinung zu äußern. Und ob es nicht merkwürdig sei, als Abgeordnete immer diese Personenschützer um sich zu haben?
Das ist es, fand ich, und hauptsächlich aus diesem Grund erklärte ich mich einverstanden.
Erst später, bei der Vorbereitung der Ansprache, ging mir auf, daß es dabei um den 4. Mai geht. Der 4. Mai, Totengedenken! Der beladenste und heikelste Tag des Jahres. Das Symbol für die schaurigste Periode der niederländischen Geschichte und der Geschichte Europas. Allein in den Niederlanden sind 240000 Menschen umgekommen, darunter mehr als hunderttausend Juden. Worauf hatte ich mich eigentlich eingelassen, als ich zusagte? Was sollte ich, eine gebürtige Somalierin und kaum zehn Jahre in den Niederlanden, an solch einem bleischweren Tag denn sagen? Konnte Herr Bakx niemand anderen finden, der dem Symbolwert des 4. Mai gerecht werden könnte? Zum Beispiel jemanden aus dem Widerstand, vielleicht Verwandte von Widerstandskämpfern. Im Widerstand waren doch an die 25000 Menschen aktiv. Und wenn es um das Erkämpfen des freien Worts geht, gehört dann nicht mehr dazu, als lediglich unter Personenschutz durch das Parlamentsgebäude zu laufen? Damals sind ungefähr 1200 illegale Zeitungen erschienen. Da müssen in den Niederlanden doch Menschen zu finden sein, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um diese Zeitungen vollzuschreiben, sie zu drucken und zu verteilen. Ohne den Luxus eines Personenschutzes. Warum hat man denn nicht sie gefragt?
Heute ist der 4. Mai, und ich bin in die merkwürdige Lage geraten, daß Sie, die Geladenen, von mir eine bedeutungsvolle Rede erwarten. Kann eine Migrantin etwas Sinnvolles über den 4. oder den 5. Mai sagen? Habe ich denn teil am kollektiven Gedächtnis der Niederländer oder der Europäer? Und warum sollte ich Ihrer Toten gedenken, wo in meinem Heimatland und Heimatkontinent täglich so unendlich viele Menschen umkommen, derer nie gedacht wird?
Bei näherer Betrachtung ist es vielleicht gar nicht so merkwürdig, daß man eine Migrantin gebeten hat. Der Krieg ist seit achtundfünfzig Jahren vorbei. Die meisten Niederländer haben auch das Gefühl, daß er wirklich vorbei ist. Formal gibt es eine Versöhnung mit den Deutschen. Und für die jüngeren Nachkriegsgenerationen ist es immer mehr Geschichte. Freiheit ist in den Niederlanden eine alltägliche Erfahrung geworden, auch das Recht der freien Meinungsäußerung. Im Europa der Gegenwart können Worte noch eine starke Wirkung haben. Menschen werden davon getroffen, verletzt, beleidigt. Aber das führt nur selten zu Verfolgung oder Bedrohungen. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist selbstverständlich geworden. Vielleicht zu selbstverständlich.
Gerade die Erfahrung vieler Zuwanderer mit Zwang und Unfreiheit könnte dazu beitragen, daß das Totengedenken mehr ist als ein Ritual, das im Lauf der Zeit an Bedeutung verliert. Die Kultur des freien Wortes formt ganze Generationen von Migranten und zwingt viele, alte Traditionen zu überdenken und gelegentlich zu verwerfen, aber das freie Wort wird von ihnen auch genutzt, um Fragen an die kollektive Erinnerung zu stellen, wie sie sich im Lauf der Jahre in den Niederlanden herausgebildet hat. Eine Erinnerung, in die viele Fragen nur schwer Vordringen. Fragen, die manchmal erst fünfzig Jahre nach dem Krieg zum ersten Mal offizielle Anerkennung fanden, als die Königin (in ihrer Rede »Gedenken nach fünfzig Jahren« am 5. Mai 1995) im Ridderzaal sagte: »Will man ein korrektes Bild zeichnen, so kann man nicht verschleiern, daß außer mutigem Handeln auch passives Verhalten und aktive Unterstützung des Besatzers vorgekommen sind.«
Und tatsächlich ringen die Niederlande noch immer mit ihrer kolonialen Vergangenheit. Schlimmer noch, aus der Perspektive eines Migranten waren es doch Europäer, die in Afrika Kolonien gründeten und diese auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufgaben. Waren es nicht die Niederländer, die sich nach ihrer
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