Ich komme um zu schreiben
die Haustür nicht mehr verschlossen gewesen. Im betrunkenen Zustand hatte sie sich noch nichts dabei gedacht, aber als sie am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte sie wieder daran denken müssen. Und sie war sich plötzlich absolut sicher gewesen, die Tür abgeschlossen zu haben. Andererseits kannte sie das Haus ja auch noch nicht so gut. Vielleicht war der Türrahmen etwas verzogen, und das Schloss klemmte manchmal?! Und dann all das Seufzen und Knarzen und Rascheln, wenn sich das Haus nachts abkühlte … Aber daran würde sie sich schon noch gewöhnen.
In ihrem Verfolgungswahn hatte sie sich sogar Mrs Gibsons neueste Hass-E-Mail zu Herzen gehen lassen. Vielleicht war die alte Dame ja doch gar nicht so harmlos wie gedacht?! Vielleicht war sie ja eher vom Typ Kathy Bates aus Misery?! Doch Mollys Nachforschungen im Internet hatten alle darauf hingewiesen, dass es sich bei Mrs Gibson um eine achtzigjährige Rentnerin handelte, die auf Long Island in einem Seniorenwohnheim ihr Dasein fristete und regelmäßig Leserbriefe an alle möglichen Lokalzeitungen verfasste. Mrs Gibson regte sich nämlich nicht nur über erotische Literatur, sondern auch über liberale Schulräte, arbeitende Ehefrauen und steigende Taxipreise auf.
Kurz gesagt war es nicht wirklich wahrscheinlich, dass Mrs Gibson ihre Stalkerin war. Und damit blieb nur Cameron übrig.
Zum ersten Mal in ihrem Leben kam Molly der Gedanke, dass es vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre, sich eine Waffe zuzulegen. Vielleicht würde sie dann ja wieder ruhiger schlafen. Oder einen Hund. „Hunde sind eindeutig niedlicher als Pistolen“, murmelte sie dem Telefon in ihrer Hand zu.
Als es klingelte, fuhr Molly hoch, und das funkelnagelneue Telefon flog in die Luft, krachte gegen die Arbeitsplatte und rutschte von da aus mit einem hohlen Klappern weiter ins Spülbecken. Molly versicherte sich kurz, dass das teure Ding nicht kaputtgegangen war, dann rief sie: „Ich komme schon!“ Auf dem Weg zur Haustür griff sie in die bereitstehende Süßigkeitenschale. Da es in Tumble Creek nicht sonderlich viele Haushalte gab, die die Kinder an Halloween heimsuchen konnten, hatte Molly besonders leckeren Süßkram in rauen Mengen besorgt. Bislang waren ihre kleinen Besucher völlig begeistert von ihrer Ausbeute gewesen.
„Trick or treat!“, quietschte ein kleines Mädchen, das hinter seinem dicken Schal halb verschwand. Die Mutter stand unten am Fuß der Treppe und winkte Molly zu.
Molly lächelte dem kleinen Mädchen zu, das in einem unförmigen Parka und weißen Jogginghosen steckte. Zwischen den winterlichen Kleidungsschichten ragte ein rosafarbenes Tutu hervor, und auf der Strickmütze prangte eine kleine Glitzerkrone.
„Du bist ja eine hübsche Prinzessin“, bemerkte Molly bewundernd, während sie ein paar Schokoriegel in die Papiertüte warf, die das Mädchen ihr entgegenstreckte. Die Kleine begutachtete ihre Ausbeute mit großen Augen. Ha! dachte Molly . In dieser Stadt bin ich beliebter als Britney Spears. Wenigstens bei den Fünf- bis Zwölfjährigen. „Prinzessinnen sollten den ganzen Tag nichts anderes als Schokolade essen“, fügte sie noch hinzu.
Die großen Augen funkelten, und Molly wurde ganz warm ums Herz. Sie liebte diese ganzen Kleinstadtbräuche wirk…
„Ich bin keine Prinzessin!“
Oh, oh, das klang aber ganz und gar nicht erfreut! „Ähm, tut mir leid! Ich bin …“
Dicke Krokodilstränen begannen zu fließen. Molly warfder Mutter einen verzweifelten Blick zu, doch die stand einfach nur da und zuckte sichtlich zusammen, weil sie wohl bereits ahnte, was als Nächstes kommen würde.
„Ich bin keine Prinzessin!“, brüllte das Mädchen jetzt und schwenkte wild einen Zauberstab hin und her, den Molly bisher gar nicht bemerkt hatte. „Ich bin eine Fee. Eine Fee!“
Endlich kam Bewegung in die Mutter. „Komm schon, Kaelin, wir gehen weiter, mein Schatz!“
„Ich will nicht mehr weitergehen. Und ich will diesen blöden Mantel nicht tragen! Niemand sieht meine Flü-hü-hügel!“ Mittlerweile war die Kleine ein schluchzendes Häuflein Elend aus Daunen und Goretex. „Ich hab dir doch gesagt, dass keiner meine Flügel sehen kann mit dem ekligen Mantel!“
„Herrgott noch mal“, murmelte die Mutter, während sie die Stufen heraufkam, um ihr am Boden zerstörtes Kind aufzusammeln.
„Tut mir so leid“, flüsterte Molly flehentlich.
Das Mädchen raffte sich ein letztes Mal auf, um ohrenbetäubend schrill „Ich bin eine Elfe!“
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