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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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entschlossen, das kommt manchmal vor. Sie lässt niemanden dahinterschauen. Sie hört auf niemanden. Sie ist eine Mauer. Wenn du auf dem Besuchersteg der Brauerei wärst, oberhalb der Abfüllhalle, und hinunterschautest, wenn du meine Mutter sähest, wie sie hin und her flitzt und die umgekippten Flaschen wiederaufrichtet – du würdest es nie für möglich halten, dass sie auch ganz anders sein kann, dass sie so eine Mauer sein kann.
    »Nein«, sagte meine Mutter. »Nein.«
    Dabei hielt sie sich mit beiden Händen die Ohren fest zu.
    Wenn ich an meine Schwester Ivy denke, tut mir das Herz weh. Mein Herz tut weh, mein Herz, das sich in meiner Brust genau in diesem Moment zusammenzieht und pumpt, sich zusammenzieht und pumpt, mein Blut durch die Flüsse meines Körpers transportiert, vorbei an Schluchten und Inseln, mein leuchtend rotes Blut.
    Ärzte würden das Herz meiner Schwester nehmen und in die Brust eines anderen tun, es dort anschließen und befestigen und dem fremden Menschen Medikamente verschreiben, damit sein Körper das Herz meiner Schwester nicht abstößt, damit dieser Körper nicht sagt: Was zum Teufel ist das, dieses Ding, dieses unbekannte Ding, das da in meiner Brust schlägt, wirst du verdammt noch mal verschwinden! Und das Herz meiner Schwester würde diesen Menschen am Leben halten.
    Aber wo wäre Ivy? Manchmal denke ich darüber nach. Es ist ein Rätsel. Eine unbekannte Welt ist das. Ich denke an das Higgs-Teilchen, das die Tür zu einem anderen, bisher völlig unentdeckten Reich öffnet. Als ich mich für mein Schulprojekt mit dem Higgs-Teilchen beschäftigte, habe ich gelernt, dass nur vier Prozent des Universums aus Atomen mit bekannten Kräften wie Schwerkraft oder Elektromagnetismus bestehen, dem ganz gewöhnlichen Stoff, der auch in Wasser und Steinen und Topflappen und Skalpellen ist. Die übrigen sechsundneunzig Prozent sind dunkle Materie. Dunkle Energie. Und niemand weiß, was das ist, dunkle Materie und dunkle Energie.
    »Nein«, sagte meine Mutter. »Nein, Sie können das nicht verstehen. Ich kann sie nicht verlieren.«
    Das ist das, woran ich mich erinnere, wenn ich mich an den Abend des Unfalls erinnere. An das, was geschah, nachdem Tom und Spooner und William T. und Crystal – wo kamen die eigentlich plötzlich her? – uns ins Krankenhaus gebracht hatten. Noch vor dem Rettungswagen.
    Neonlicht. Ein langer gefliester Flur. Menschen in blauer Kleidung, Menschen in weißer Kleidung standen im Kreis um meine Mutter herum.
    »Nein«, sagte sie.
    Als meine Mutter nicht mehr hinhörte, als sie sich die Ohren zuhielt, wandten sie sich an mich.
    »Dein Vater?«
    Genau so sagten sie es, so als wäre ihnen schon klar, dass dieser Mann – dein Vater – von der Bildfläche verschwunden war. Als ginge es hier darum, im Multiple-Choice-Verfahren Begriffe zu beschreiben:
    Vater? (Zutreffendes ankreuzen)
    – im Krieg verschollen
    – hat Frau und Töchter seit neun Jahren nicht gesehen
    – lebt in New Orleans (letzter Kenntnisstand)
    Ich schüttelte den Kopf. Nein. Einer der Ärzte schien zutiefst enttäuscht und sah noch einmal meine Mutter an.
    »Nein«, sagte sie.
    Nach und nach gingen alle, und meine Mutter stand allein unter dem Neonlicht. Das ist meine Erinnerung, dabei weiß ich, dass William T. und Crystal und Spooner und Tom Miller und ich auch da waren. Ich sehe noch immer das Gesicht meiner Mutter an jenem Abend vor mir, wie hohlwangig sie aussah unter diesen langen Neonröhren. Nach einer Weile streckte William T. die Arme aus und zog ihr sanft die Hände von den Ohren.»Nach Hause, Kleine?«, fragt mich William T., als wir in seinem Truck sitzen und Richtung Norden fahren.
    Ich schüttle den Kopf. Ich will meiner Mutter nicht dabei zusehen, wie sie mit ihrem Stuhl wippt, ihr nicht dabei zuhören, wie sie über Ivy schweigt.
    »Wie wär's dann mit Eiern?«
    Ich nicke. Also fahren wir an meiner Einfahrt vorbei, an dem Haus, in dem meine Mutter jetzt sitzt, zurück von der Arbeit in der Brauerei, und hinauf auf den Jones Hill, wo das Haus von William T. steht. Zurück in North Sterns, zurück von Ivys Zimmer, zurück von Angel und ihrer Zuchthausration Brot und Butter und der Schwarzkopfmeise, dem heutigen Vogel des Tages.
    William T. macht mir Rühreier, auf die spezielle Art, wie er sie immer für mich macht. Langsam und geduldig, das ist seine Methode. Andere Leute machen Rührei in einem Viertel der Zeit, die William T. dafür braucht. Aber Rührei von anderen Leuten schmeckt

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