Ich lebe lebe lebe - Roman
William T. betrachtet mich mit forschendem Blick.
»Sie reden über die Große?«
»Richtig.«
»Und was sagen sie?«
»Dass sie eine lebende Leiche ist. Dass sie die Augen nicht aufmachen kann. Dass sie immer so bleiben wird. Dass sie bloß noch am Leben ist, weil meine Mutter nicht erlaubt, dass sie den Stecker ziehen.«
Worte. Sie purzeln mir einfach so aus dem Mund. Tracy Benova und Todd Forest, die zusammen an Tracys Spind stehen. Bruchstücke von Gesprächen anderer Leute.
William T. sagt nichts. Ich beobachte seine Miene. Das Einzige, was ich darin entdecke, ist Traurigkeit. Nach einer Weile nimmt er seinen Autoschlüssel und räuspert sich.
»Bist du so weit, Kleine?«
»Nein.«
Die Eierpfanne ist gespült und zurück an ihrem Platz, die Sonne ist untergegangen, aber ich will noch nicht, dass es Zeit wird.
»Deine Mutter braucht dich.«
»Meine Mutter besucht ihre eigene Tochter nicht.«
William T. sieht mich an. Ich sehe, wie es in seinem Kopf arbeitet. Er will etwas sagen, doch er weiß nicht, wie.
»Ist doch so«, sage ich, als er mich immer weiter mit diesem Ausdruck im Gesicht ansieht. »Das weißt du so gut wie ich.«
»Unterschätz deine Mutter nicht, Kleine«, sagt er. Das sagt er am Ende immer.
Jeden Abend sehe ich zu, wie die Finger meiner Mutter sich bewegen. Sie kann sie nicht stillhalten. Auch sie ist fließendes Wasser, das in Bewegung bleiben will. Sie ist wie das herabstürzende Wasser an der Sterns Gorge, das Strudel um die Felsen herum bildet. Ab und zu entdeckt man mal einen ruhigen, tiefen Teich am Flussufer, wo das Wasser zur Ruhe kommt, bevor es sich wieder ins Gewühl stürzt. An ganz heißen Sommertagen lege ich mich manchmal da hinein. Breite meine Arme aus und lege sie auf die Felsen. So hänge ich dann da, wie aufgehängt. Die Kälte dringt durch meine Haut hindurch, kühlt meinen Körper ab. Oben ist mein Kopf ganz warm von der Sonne, aber der ganze Rest wird immer kühler und kühler und kühler, bis mir auf einmal kalt wird, erst kalt, dann zu kalt, dann schwinge ich mich hinaus, lege mich auf den langen flachen Felsen und warte darauf, dass die Sonne mich wieder wärmt.
Würde ich die Sterns Gorge aufgeben, um meine Schwester zurückzubekommen, so zurückzubekommen, wie sie war?
Doch, würde ich. Adieu, mein Felsen, adieu, Wasser, so eilig rauschst du vorüber, so unbeirrt, auf deinem Weg, auf dem Weg zu deinem Ziel. Bereitwillig würde ich dich aufgeben, wenn ich dafür meine Schwester zurückbekäme.
»Deine Mutter hat es nicht leicht«, sagt William T., und auch das sagt er immer.
Was ich gern sagen würde: Wer hat es denn leicht? Wer, verdammt noch mal? Ivy schon mal nicht. Nicht Ivy, die mit geschlossenen Augen im Bett liegt, angeschlossen an dieses Beatmungsgerät, das ihren Lungen durch das Tracheotom Luft zuführt, mit dem zartesten Säuseln, das man sich vorstellen kann.
Auch nicht meine Mutter, deren Finger ständig in Bewegung sind. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie laut es hier drin ist«, hat sie einmal zu Ivy und mir gesagt und dabei auf ihren Kopf gezeigt.
Ich weiß das sehr wohl. Ich weiß alles über Geräusche und Stromstöße, über stumme Schreie, die sich auf und ab bewegen auf den Wasserwegen meines Körpers. Ich kenne mich aus mit Laufen, mit Rhythmus, mit der Kadenz von Schritten, die meine Muskeln müde machen und mir Frieden bringen. Frieden. Frieden.
»Ich versuche, nicht zu denken«, hat meine Mutter gesagt, als sie als Brauereimitarbeiterin des Monats interviewt wurde. »Je weniger ich denke, desto besser bin ich in meinem Job.«
Sie ist wirklich gut in ihrem Job. Aber das liegt ja auch auf der Hand, schließlich arbeitet sie schon über zwanzig Jahre in der Brauerei.
Ihr Leben lang haben die Hände meiner Mutter das Reden für sie übernommen. Schau doch nur zu ihr hinunter vom Besuchersteg. Schau ihre schmalen Hände an, wie sie da unten am Band die gekippten oder umgefallenen Flaschen aufrichtet. Schau, wie flink und anmutig sie sind. Als ich klein war, bevor meine Mutter so lange im Bett blieb, da bin ich manchmal nachts aufgewacht und habe ihre Hände auf meiner Stirn gefühlt, wie sie mir die Haare aus der Stirn strichen, wieder und wieder und wieder.
»Ich arbeite gern, bis ich völlig platt bin«, hat sie dem Interviewer erzählt. »Das erspart mir Probleme.«
Gib ihr einen Garten, und sie jätet das Unkraut. Gib ihr einen kaputten Zaun, und sie repariert ihn. Gib ihr ein Spülbecken mit schmutzigem Geschirr, und sie
Weitere Kostenlose Bücher