Ich lebe lebe lebe - Roman
auch nicht annähernd so gut wie das von William T. Er macht mir ziemlich oft Eier, immer wenn ich oben bei ihm bin. Und das kommt immer öfter vor.
»Du hattest recht«, sage ich. »Mit dem, was du gesagt hast über die Art, wie ich Brot und Butter essen würde.«
»Natürlich hatte ich recht«, sagt er. »Ich kenn doch meine Kleine.«
»William T.?«
»Kleine?«
»Wie war mein Vater?«
»Dein Vater?«
»Ja, mein Vater.«
Ich warte. William T. gießt die Eiermischung in die heiße Butter in seiner speziellen Eierpfanne.
»Er war ein Mann falscher Entscheidungen.«
Das klingt, als hätte er es in einem Buch gelesen und auswendig gelernt für den Tag, an dem ich kommen und ihn nach meinem Vater fragen würde. Väter Nordamerikas . Wen sollte ich auch sonst fragen? Bestimmt nicht meine Mutter. Seit damals, als sie so lange im Bett geblieben ist, haben weder Ivy noch ich ein Wort zu ihr gesagt über unseren Vater.
Ein Mann falscher Entscheidungen. Okay. Ich warte.
»Ja«, sagt William T., so als hätte ich eine Frage gestellt. »Falsche Entscheidungen.«
Manchmal macht William T. mir auch bei mir zu Hause Rührei, nämlich wenn er kommt, um nach meiner Mutter zu sehen. Meine Mutter hat es generell nicht so mit dem Essen, aber wenn William T. Rührei macht, dann isst sie es. William T. schüttelt den Kopf.
»Keine richtigen Entscheidungen«, sagt er.
Keine richtigen Entscheidungen. Thema und Variation – falsche Entscheidungen, keine richtigen Entscheidungen. Okay. Ich warte.
»Was genau willst du wissen, Kleine?«, fragt er schließlich. Ich wusste, wenn ich lang genug wartete, dann könnte selbst William T. das Schweigen nicht mehr ertragen. Wie die meisten Leute würde er es wohl mit Wörtern ausfüllen wollen. Die meisten Leute hassen Schweigen. Sie wollen es füllen, zudecken, verschwinden lassen. Weg mit dem Schweigen und mit seinen endlosen, unausgesprochenen Fragen.
»Alles, was geht.«
»Er wohnt im Süden, in Louisiana, jedenfalls war das das Letzte, was ich gehört habe. Da ist er hin, nachdem er von Sterns weg ist.«
»Kein Winter in Louisiana«, bemerke ich.
William T. rührt um. Mit seinem Holzlöffel, den er nur fürRührei benutzt, rührt und rührt er. Die Flamme unter der Pfanne ist so klein, dass man sie kaum sieht, winzige blaue Zungen lecken am Boden der gusseisernen Pfanne. Ich sitze auf dem Hocker und schaue William T. zu. Endlich spricht er wieder.
»Kleine, die Sache mit deinem Vater ist die: In seinem Naturzustand konnte er sich selbst nicht leiden.«
Okay –
»Er zog es vor, sich die Wirklichkeit ein bisschen auszuschmücken. Um's mal so auszudrücken.«
»Er hat deine Mutter geliebt. Das weiß ich, man hat es gesehen. Aber die Wirklichkeit, wie er sie sich ausgeschmückt hat, die liebte er mehr.«
Okay –
Aber was war mit mir und Ivy? Hat unser Vater uns auch geliebt?
Die Eier sind fertig. Wackelnde buttergelbe Kissen. William T. löffelt sie auf eine Untertasse statt auf einen normalen Teller. Er weiß, dass ich mein Ei lieber von einer kleinen Untertasse als von einem großen Teller esse, und statt einer Gabel nehme ich lieber einen Löffel. Ich versuche mir meinen Vater vorzustellen, als jungen Mann in Louisiana. Wie er mitten auf dem Rasen eines kleinen Parks in New Orleans auf dem Rücken liegt. Ich habe mal ein Bild von so einem Park gesehen.
»Wenn er nicht tot ist«, sagt William T., »dann müsste er jetzt an die vierzig sein.«
In meinem Kopf ist er umgeben von Musikern, die sanften Jazz machen. Touristen mit heißen Beignets aus einem Caf laufen vorüber, und Puderzucker rieselt auf meinen Vater wie der Schnee, den er hinter sich gelassen hat.
»Stell dir das vor«, sagt William T. »Vierzig Jahre. Wie die Zeit vergeht, was, Kleine?«
Mit einem Geschirrtuch wischt er seine spezielle Eierpfanne trocken. Dabei schüttelt er den Kopf. Vierzig Jahre. Ich weiß nicht mal, wie mein Vater aussieht.
»In der Schule reden sie über Ivy«, sage ich.
Ich wusste selbst nicht, dass ich das sagen würde. William T. erstarrt, geradeso wie Jimmy Wilson jedes Mal, wenn er mich jetzt sieht. Anders als Warren – der sieht mich seit dem Abend am Fluss, als ich mit ihm auf dem Felsen gelegen habe, nur mit so einem trägen, wissenden Blick an. Und lächelt dazu. So ein träges, wissendes Lächeln. Ich hasse es. Aber wenn ich wählen müsste, dann würde ich Warren Graves' wissendes Lächeln nehmen, lieber als Jimmy Wilsons starre Weigerung, mir ins Gesicht zu sehen.
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