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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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lernen.«
    William T. lacht. »Du bist wirklich mit allen Wassern gewaschen, Kleine.«
    Ich lese weiter. »›Durchgezogene Mittellinie plus durchbrochene Linie. Befinden Sie sich auf der Seite mit der durchgezogenen Linie, dürfen Sie nicht überholen und auch sonst die Linie nicht überfahren, es sei denn, um nach links in eine Einfahrt einzubiegen. Befinden Sie sich auf der Seite mit der durchbrochenen Linie, dürfen Sie überholen, soweit das gefahrlos möglich ist und Sie den fließenden Verkehr nicht behindern.‹«
    »Pah!«, macht William T.
    »›Einfache, durchgezogene Linie‹«, lese ich. »›Sie dürfen andere Fahrzeuge überholen oder die Spur wechseln, sollten es aber nur dann tun, wenn Hindernisse auf der Straße das erforderlich machen oder die Verkehrsverhältnisse es verlangen. Wollen Sie von einer Einbahnstraße nach links in eine andere Einbahnstraße einbiegen, achten Sie darauf, die linke Spur bzw. die linke Seite der einzigen Spur anzusteuern, und zwar so, dass Sie möglichst weit am linken Fahrbahnrand fahren. Ist die Straße, in die Sie einbiegen, zweispurig, müssen Sie die linke Spur wählen.‹«
    »Lieber Himmel«, sagt William T., »ganz schön viele Regeln in dem Ding.«
    »Die musst du doch kennen. Das musst du doch irgendwann alles mal gelernt haben für deinen Führerschein.«
    »Falls ja, erinnere ich mich nicht mehr dran.«
    Ich sehe Ivy an, meine Schwester mit den gefalteten Händen über dem Herzen, so als wollte sie es warm halten, als ob sie um etwas bitten wollte, als hielte sie sich selbst zusammen. Ivy und ich hatten einen Unfall. Es dämmerte schon in den Adirondacks an jenem Abend, und wir kamen um eine Kurve.
    »Ich will nicht fahren«, sage ich.
    »Um in dieser Welt zu leben, musst du Auto fahren können«, sagt William T.
    »Dann lebe ich eben in einer anderen Welt.«
    Ich schließe das Führerscheinhandbuch und greife wieder nach meinem Pompejibuch.
    Ich tue so, als würde ich lesen. »Stell dir das vor, all diese ganz normalen Leute, die ihr ganz gewöhnliches Leben leben. Vielleicht ist das Baby in seinem Binsenkörbchen in der Ecke gerade eingeschlafen.«
    »Binsenkörbchen?«, fragt William T. »Das war doch Moses, dachte ich.«
    Ich tue weiter so, als würde ich lesen. »Das Baby schläft in seinem Binsenkörbchen. Seine Mutter steht derweil am Lehmofen und backt das Brot zum Mittag, während der Vater auf dem Markt steht und Amphoren mit selbst gekeltertem Wein verkauft.«
    »Wie ist das nur möglich, dass ich das nicht gewusst habe – dass Moses in Pompeji lebte?«, sagt William T.
    Der Türknauf dreht sich, und wir sehen beide auf, um Angel zu begrüßen. Aber es ist nicht Angel. Es sind Tom Miller und Joe Miller. Joe sieht aus wie ein Tier, das noch nie in geschlossenen Räumen gewesen ist. »Einen Miller in ein Haus einzusperren ist ein Verbrechen«, hat William T. mal gesagt.
    Joe Miller steht da, seine Basecap mit dem Logo von Gray's Kfz-Werkstatt in den Händen. So steht er da, hinter ihm Tom. Es ist Ende Mai, seit über zwei Monaten ist Ivy jetzt schon an das Beatmungsgerät angeschlossen. Ich beobachte Joe, wie er sie betrachtet, meine Schwester Ivy mit einem Schlauch in der Kehle und einem Schlauch im Arm und weiteren Schläuchen, die man nicht sehen kann, weil sie unter der Decke verborgen sind. Unablässig dreht Joe Miller seine Basecap zwischen den Fingern.
    »Ivy?«
    Das war Joe, seine Stimme. Leise. Ganz ruhig. Er sagt ihren Namen. Kann sie ihn hören? Ist sie hier? Joe beobachtet Ivy, ich beobachte Joe, Tom beobachtet Joe, Ivy mit ihren geschlossenen Augen beobachtet nichts.
    »Ivy?«
    Joe legt seine Kappe auf den Tisch. Kniet sich neben Ivys Bett.
    »Ivy.«
    Er sagt ihren Namen, einmal und dann noch einmal.
    »Ivy.«
    Er streckt seine Hände nach ihren aus, nach Ivys ineinandergelegten Händen. Er faltet seine Finger um ihre.
    »Ivy«, flüstert Joe.
    Dann schließt er die Augen. Er führt die gefalteten Hände meiner Schwester an sein Gesicht, reibt seine Wange an dem Bündel aus Händen, vier Händen, also seinen Händen, die die Hände meiner Schwester umschließen. Er reibt sein Gesicht an den Händen meiner Schwester und flüstert dabei ihren Namen, und ich schließe die Augen und höre ihm zu. »Ivy, Ivy, Ivy.«
    Ivy, als dein Kopf gegen das Lenkrad geknallt ist, war dir da bewusst, dass ich neben dir saß? Als der hellblaue Truck das letzte Stück auf uns zuschlitterte, Stück um Stück, unmittelbar bevor er mit unserem Auto

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