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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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zusammenstieß, da habe ich dein Gesicht gesehen. Deine Miene war völlig ausdruckslos.
    Joe Miller wendet sich vom Bett ab und geht zur Tür. Tom, der am Boden gesessen hat, macht Anstalten aufzustehen, sinkt aber nach einer Handbewegung von Joe wieder zurück.
    »Wie sie das hier gehasst hätte«, sagt Joe zu mir. »Sie hätte es so gottverdammt gehasst.«
    Er will die Tür aufdrücken, aber sie rührt sich nicht. Er rüttelt am Knauf, und die Tür schwingt nach innen auf. Er drückt dagegen, und dann ist er weg. Tom sieht mich und William T. an, zuckt mit den Schultern: Tut mir leid. Dann ist er auch weg, hinter seinem Cousin her, um ihn heimzubringen.
    Das stehende Wasser des Hinckley-Stausees bedeckt, was einmal ein ganzer Ort war: inneres und äußeres Gefüge für das Leben von tausend Menschen.
    Hat Wasser ein Gedächtnis? Erinnert Wasser sich daran, wo es herkommt, was es einmal war? Ob der Tropfen Wasser, der mitten in eine sich öffnende Knospe fällt, noch weiß, dass er einmal ein gefrorener Kristall unter irgendwelchen Schlittschuhen war?
    »Ich kann mein Mädchen nicht verlieren«, hat meine Mutter zu den Ärzten gesagt. Da stand sie im Flur des Krankenhauses,umgeben von Schwestern und Ärzten. Weiße Mäntel und blaue Kittel, Licht, das sich in Brillengläsern und Kugelschreibern spiegelte. Hände auf Hüften, Hände, die Papier oder medizinische Instrumente festhielten, Hände in Taschen.
    Meine Mutter hielt sich die Ohren zu.
    »Ich kann mein Mädchen nicht verlieren.«
    Sie schloss die Augen.
    »Nicht mein Mädchen. Nicht mein Mädchen. Nicht mein Mädchen.«
    Stimmen erhoben sich um meine Mutter, die die Augen geschlossen und die Hände über den Ohren hatte. Was sagten die Stimmen? Ich weiß es nicht mehr. Es spielt auch keine Rolle.
    Lassen Sie sie gehen , das haben sie gesagt.
    Das waren nicht ihre genauen Worte. Nie würden sie solche Worte benutzen. Sie müssen einen Eid ablegen, den Eid des Hippokrates. Es muss ihnen doch gegen alles gehen, was sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, der Gedanke, jemanden einfach . . . sterben zu lassen. Warum hört es nicht einfach auf ?
    Das Atmen. Der Herzschlag. Das Sein.
    Lassen Sie sie gehen.
    Ich kann mein Mädchen nicht verlieren.
    Lassen Sie sie gehen.
    Ich kann mein Mädchen nicht verlieren.
    Ich lehnte an der Wand und beobachtete alles. Eine ganze Weile ging es so. Männer und Frauen standen im Kreis um meine Mutter. Das sanfte Rauschen ihrer Stimmen hielt an. Meine Mutter war der einsame Mittelpunkt, die Augen geschlossen, die Hände über den Ohren, das Gesicht verzerrt, verschlossen, so drehte sie sich unablässig im Kreis.
    Ivy, bist du jetzt irgenwo anders?
    Schwebt dein Geist über jenem Stück Straße?
    Meine Schwester und ich hatten einen Unfall. Es dämmerte schon in den Adirondacks an jenem Abend. Ein Junge, der gerade erst seinen Führerschein hatte, kam die Straße aus den Bergen heruntergerutscht, er wusste nicht, dass er langsamer fahren sollte, dass diese Kurve sehr lang war, dass hier und da schon Eis auf der Strecke war, und als er schließlich doch noch auf die Bremse trat, kam sein hellblauer Truck nicht zum Stehen, sondern schlitterte direkt in unser Auto, in dem Ivy am Steuer saß.
    Es passierte so sachte. Ich war bei Ivy, ich saß neben ihr. Ich schaute durch die Windschutzscheibe, in den diamantenbesetzten Himmel, ich sah den Truck kommen, und ich wusste, er würde nicht mehr stoppen können. Es würde passieren. Der Truck würde auf uns zuschlittern, ohne jedes Geräusch, er würde seitlich auf uns zukommen, dann würde er sich noch einmal drehen, sodass er frontal auf uns gerichtet war. Gerade geschieht es wieder –
    Auf dem Rückweg von Ivy hält William T. kurz beim Supermarkt in Utica an. Er will für seine Freundin Crystal Oliven kaufen, die mit Knoblauch, die Crystal so gerne isst und die Mr. Jewell in seinem Lebensmittelladen nicht hat. William T. macht Crystal liebend gern eine Freude.
    »Knoblaucholiven für Crystal!«, sagt er durchs Fenster zu mir. Er hält die rechte Hand hoch und schnippt dreimal mit den Fingern. »Nur ein Viertelstündchen. Rühr dich nicht vom Fleck, Kleine. Ein Viertelstündchen.«
    Also bleibe ich im Auto sitzen und warte auf ihn. Eine alte Dame kommt aus dem Supermarkt mit einer Packpapiertüte voller Lebensmittel. Alt ist die Dame, richtig alt. Die Zeiten, in denen sie gut zu Fuß war, in denen sie einfach ging, ohne darüber nachzudenken, liegen weit hinter ihr. Jetzt bedeutet jeder

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