Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
Vom Netzwerk:
sprechen.«
    William T.s Truck kommt die Thompson Road herunter. Der Motor hat diesen unverwechselbaren Hier-kommt-William-T.s-Truck-Klang. Man erkennt ihn schon auf eine halbe Meile Entfernung. Ich lasse den Kopf im Rucksack. Toms Hand verschwindet.
    »Kleine!«
    Das Motorengeräusch erstirbt, William T.s Tür geht auf mit dem typischen William-T.-Türgeräusch. Tom und er reden über meinen Kopf hinweg.
    »Alles in Ordnung mit ihr?«
    »Ganz okay.«
    Ich merke, wie William T. sich neben mich kniet. Seine Hand auf meiner Schulter. So anders als Toms flache Hand auf meinem Kopf.
    »Kleine«, sagt er. »Kleine.«
    Mach die Augen auf, Rose. Heb den Kopf aus dem Rucksack. Au! Der Maihimmel ist zu grell. Das zarte junge Laub an den Bäumen ist zu grün. William T.s Augen glänzen. Sie sind feucht. Tränen.
    »Es tut mir leid, dass ich so spät bin, Kleine. Das Auto braucht Öl, und ich hab unterwegs bei Agway angehalten, um noch schnell eine Büchse zu kaufen, aber die hatten zu, und als ich gemerkt habe, dass es zu spät wurde, bin ich trotzdem gefahren, und jetzt bin ich da. Wenn auch zu spät. Und so wie ich das sehe, kann der verfluchte Motor jeden Augenblick den Geist aufgeben.«
    Tränen rollen ihm aus den Augen über die rauen Wangen.
    »Gray's hat offen«, sagt Tom. »Müsste jedenfalls.«
    William T.s Hand liegt schwer auf meiner Schulter.
    »Möchtest du jetzt nach Utica, Kleine? Wir könnten unterwegs noch bei Gray's stoppen. Wir müssen aber nicht. Nach Utica fahren, meine ich. Nicht, wenn dir jetzt nicht danach ist.«
    Wenn wir nicht nach Utica fahren, wer besucht Ivy dann? Ich sehe William T. an.
    »Angel kann sich mal einen Nachmittag lang um sie kümmern«, flüstert er. Er kann meine Gedanken lesen. »Der Großen wird es gut gehen, bis wir morgen kommen.«
    Ich bin müde. So müde. Nichts da. Ivy wartet. Wir sind schon zu spät. Es tut mir leid, Ivy. Tut mir leid, dass wir so spät sind. Aber William T.s Auto braucht Öl.
    »Gehen wir«, sage ich.
    »Okay«, sagt William T. »Also nach Utica, mit einem Zwischenstopp bei Gray's, zum Ölwechsel, der ist schon neuntausend Meilen überfällig.«
    William T. nickt Tom zu, und Tom geht rückwärts los in Richtung Schulparkplatz. Er wedelt einmal kurz mit der Hand in Richtung William T., dann dreht er sich um und läuft schnell weiter. Ich steige in William T.s Truck. So müde. Wir fahren an unserem Haus vorbei, dann William T.s Hügel hoch und schließlich links in die Fuller Road. Den ganzen Weg lang bis Remsen sprechen wir kein Wort. Von Zeit zu Zeit streckt William T. dieHand aus und legt sie mir auf die Schulter. Vor der nächsten Kurve nimmt er sie wieder weg. Ziemlich viele Kurven, hier in den Adirondacks.
    Joe Miller steht bei Gray's hinterm Ladentisch und sortiert einen Haufen vollgekritzelter Papiere, die alle denselben Stempel tragen: Kfz-Werkstatt Gray's, Remsen, New York.
    »Ich hab den verfluchten Ölwechsel ja immer selbst gemacht, Joe«, sagt William T. »Aber jetzt langt's. Zum Teufel damit!«
    Er fischt einen Vierteldollar aus der Tasche und legt mir die Münze mit einem Schlag in die Hand.
    »Jetzt lass ich euch Millers das machen. Auf meine alten Tage gönne ich mir das.«
    Damit verschwindet er in Richtung Toiletten. Joe hinter dem Ladentisch sortiert weiter seine Zettel. Einen Nagel für die weißen, einen für die gelben, der Rest landet im Papierkorb. Die Haare hängen ihm bis auf die Schultern, er streicht sie zurück mit einer ölverschmierten Hand. Dunkles, welliges Haar. Noch fehlen die hellen Strähnen, die er immer bekommt, wenn die Sommersonne daraufbrennt.
    Würde ich auf meine Haare verzichten, um meine Schwester zurückzubekommen? Natürlich. Mein kahler Schädel würde im Sommer braun werden und im Winter weiß sein wie Eierschalen. Drei Jahreszeiten über würde ich Hüte tragen. Auf alle meine Haare würde ich verzichten. Nirgends mehr ein Haar. Augenbrauen, Wimpern, alles weg.
    Ein Opfer, aber groß genug?
    Natürlich nicht.
    Joes Finger haben viel zu tun. Fast ist er mit dem großen Stapel fertig. Bald nimmt er sich den nächsten vor.
    »Worauf würdest du verzichten, um Ivy so zurückzubekommen, wie sie war?«, frage ich.
    Er wirft mir einen Blick zu, so einen Für-wen-hältst-du-mich-eigentlich-Blick. Er schüttelt den Kopf und macht mit seinen Zetteln weiter.
    »Auf nichts?«
    »Hör auf.«
    »Wenn es möglich wäre, meine ich. Wenn du es könntest.«
    Blättern. Aufspießen. Wegwerfen. Blättern. Aufspießen.

Weitere Kostenlose Bücher