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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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Schritt Anstrengung. Jeder Schritt ist jetzt etwas, worüber sie nachdenkt, selbst jetzt, im Mai, wo der Winter nur eine Erinnerung ist.
    Ist da eine Pfütze?
    Ist da eine Bordsteinkante?
    Ich darf nicht stürzen. Ich darf nicht stürzen. Ich darf nicht stürzen.
    Sind das die Gedanken der alten Dame? Ist das ihr Mantra? Ich sehe sie an und stelle mir vor, dass sie in dem großen Apartmenthaus da drüben wohnt, dem Olbiston, und nur heil in ihre Wohnung zurückwill. Vielleicht hat sie eine Katze, eine Katze, die in einem blauen Samtsessel liegt und auf die alte Dame wartet, die auf – jeden – Schritt – achtet.
    Doch sie fällt nicht. Langsam, aber stetig schafft sie es bis zur Straße. Von meinem Platz in William T.s Auto aus feuere ich sie an.
    Dann reißt die Tüte. Die Blechdosen und Schachteln, die die alte Dame eingekauft hat, rollen über den Gehweg, vom Bordstein hinunter oder in eine Pfütze.
    Ich stoße die Beifahrertür auf und renne los. Schnell, Rose, heb alles auf, und stell es neben der alten Dame ab.
    » Warten Sie! Ich bin gleich wieder da!« Die alte Dame steht zitternd da. Ich halte eine Hand hoch. »Nur zwei Minuten! Warten Sie!«
    Ich renne in den Supermarkt, schnappe mir an der Kasse Plastiktüten und renne zurück. Die Frau steht noch da. Zitternd. Ich hocke mich zu ihren Füßen hin. Sie trägt Strümpfe. Alte Damen tragen immer Strümpfe. Und obschon Mai ist, trägt sie alte schwarze Damengummistiefel mit Fellbesatz, Handschuhe, Hut und einen schwarzen Alte-Damen-Mantel. Alten Damen ist immer kalt.
    Ich packe die Lebensmittel – die Blechdosen und die Schachteln und die Flaschen, das Lammkotelett und die zwei langen Möhren und die Zwiebel und den Kopfsalat – in die eine Tüte und alles zusammen in die zweite.
    »Bitte schön.«
    »Danke.«
    Sie sieht mich nicht an. Sie ist noch viel zu sehr mit dem beschäftigt, was ihr da eben passiert ist.
    »Kann ich Ihnen über die Straße helfen?«
    »Danke.«
    Doch sie kann sich kaum bewegen. Ihr Mund zittert. Ihre Augen irren umher, suchen den Gehweg ab.
    »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
    Aber ich kann es nicht. Das ist das Schlimmste. Wirklich helfen kann ich der alten Dame nicht. Ich kann hin und her laufen und all ihre Lebensmittel einsammeln und in eine Plastiktüte stopfen, ich kann die alte Dame am Arm nehmen und über die Straße führen und mit erhobener Faust einem Autofahrer drohen, der zu schnell fährt und uns beide mit braunem Dreckwasser vollspritzt. Ich kann langsam, Schrittchen für Schrittchen, mit ihr die Rampe hochlaufen bis zur Tür ihres Backsteinhauses. Ich kann ihr die Tür aufhalten, die abgestandene, stickige Luft dieser Apartmenthäuser mit ihren klopfenden Heizungsrohren und ihren Kochgerüchen einatmen. Aber auf die Art, wie ich ihr gern helfen möchte, kann ich es nicht. Ich kann ihr nicht ihre Beine zurückbringen. Ich kann ihr nicht ihre Jugend zurückbringen. Ich kann sie selbst nicht zurückbringen in eine Zeit ihres Lebens, als jemand neben ihr stand und lachend ihre Hand hielt.
    »Danke!«, sagt sie.
    »Gern geschehen!«, sage ich mit Cheerleaderstimme. »Kein Problem.«
    William T. wartet im Auto, er sieht mir entgegen, als ich auf dem Rückweg vom Haus der alten Dame die Straße überquere.
    »Was war denn da los?«, fragt er.
    Ich schüttle den Kopf. Innerlich bin ich voller Ausrufezeichen, voller kleiner Blitze, die mich treffen.
    »Alles in Ordnung mit ihr?«, fragt William T. mit einem Blick über die Straße, dorthin, wo die alte Dame gerade im Haus verschwindet.
    Ich schüttle den Kopf.
    »Mit dir alles in Ordnung?«
    Ich schüttle den Kopf.
    William T. legt den Gang ein und fährt vom Parkplatz. Er zeigt mit der Hand in Richtung Norden, dorthin, wo die Ausläufer der Adirondacks sich erheben, und fädelt sich in den fließenden Verkehr ein.
    »Nach Hause?«, fragt er nach einer Weile. Nach vielleicht einer Viertelstunde. Noch eine Viertelstunde, dann stünden wir in meiner Einfahrt.
    Ich schüttle den Kopf.
    »Magst du vielleicht Steine flippen gehen, an der Sterns Gorge?«, fragt er. »Wir könnten um die Wette werfen, so wie früher.«
    »Nein!«
    Ich spüre seinen Blick. Hör auf, mich anzusehen, William T.
    »Das war ein ziemlich heftiges Nein«, sagt er nach einer Weile. »Gibt es einen besonderen Grund dafür?«
    »Nein!«
    »Kleine.«
    »Nein! Nein! Nein!«
    Ausrufezeichen in mir, die zustoßen, zustechen. Ich sitze im Auto und schaukle vor und zurück. Vor und zurück. Vor und zurück.

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