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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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gerne. Dann winkte er und sang immer weiter, statt einfach hi zu rufen, sang er, und erst wenn sein Truck hinter der nächsten Kurve verschwunden war, war auch sein Lied nicht mehr da.
    »Nein?«, sagte Tom.
    Ein Samenkorn fällt auf die fruchtbare Erde, die Sonne scheint darauf, und Regen fällt, Tage vergehen und auch Nächte, und schließlich schiebt sich ein Maisstängel in die Welt, wächst und wächst und wächst, gibt der Welt und empfängt von ihr in gleichem Maße Sauerstoff und Kohlendioxid.
    »Nein«, sage ich wieder, und jetzt hat Tom etwas begriffen, denn er sagt, dann soll ich einfach ans andere Ende vom Feld fahren, und das mache ich. Als wir dort sind, sagt Tom, ich soll den kleinen roten Truck über den kleinen Buckel auf die Straße steuern, und das mache ich auch.
    »Guck nach rechts und nach links«, sagt er, und das mache ich. »Kommt einer?«
    Alles frei. Tom sagt, ich soll den kleinen roten Truck quer über die Straße in die Einfahrt hineinlenken und vor der Veranda halten. Beim Bremsen, sagt er, soll ich die Kupplung treten und den ersten Gang einlegen, und das mache ich auch.
    Der Motor tickt noch. Der Truck rührt sich nicht. Fest und vertrauenerweckend steht er auf der Erdoberfläche. Aber während wir da im Auto sitzen, auf dem festen Grund der Einfahrt, verschieben sich tektonische Platten unter uns. Genau in diesem Moment verschieben sie sich unter dem roten Datsun, in dem Tom und ich sitzen. Tom greift am Schalthebel vorbei und macht den Motor aus, zieht den Schlüssel ab und wirft ihn von einer Hand in die andere.
    »Wieso hast du das mit Jimmy Wilson gemacht?«, fragt er.
    Schweigen.
    »Hast du nicht gewusst, dass er verrückt nach dir ist?«
    Schweigen.
    »Sein ganzes Leben lang schon.«
    Schweigen.
    »Tu keinem weh, dem du so wichtig bist«, sagt Tom. »Du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, der je ein Leid erfahren hat. Sei nicht grausam.«
    Grausam? Die Erinnerung an die Schlucht am Fluss kommt wieder über mich, Fels unter mir, Fels um mich herum, und Jimmy Wilson und dieser Blick in seinen Augen. Tom steckt den Schlüssel wieder in die Zündung.
    »Lass uns mal Plätze tauschen«, sagt Tom. »Wir fahren auf den Star Hill.«
    Meine Mutter schaut uns durch das Fliegengitter der Küchentür an. Was denkt sie? Welche Gedanken gehen ihr durch denKopf ? Abend für Abend sitzt sie da, und nie halten ihre Finger still. Komm mit mir, Mom. Ein Papierkranich. Sie wissen nicht alles. Zwei Papierkraniche. Komm mit mir. Drei Papierkraniche. Du sollst mich nicht hassen.
    »Okay, Rose«, sagt Tom, als wir auf halber Höhe zu William T.s Haus auf dem Hügel sind. »Rede mit mir.«
    Er sieht zu mir herüber.
    »Man soll aber immer die Straße im Auge behalten«, sage ich. »Steht im Führerscheinhandbuch – hast du das nicht gelesen? Hat dein Großvater dir das nicht beigebracht, als er das erste Mal mit dir gefahren ist?«
    Er lässt sich nicht ablenken.
    »Rede mit mir.«
    »Es hat nichts mit Jimmy zu tun«, sage ich. »Es hat mit mir zu tun.«
    »Erzähl das mal Jimmy.«
    »Du kapierst gar nichts.«
    »Probier's wenigstens. Vielleicht bekomme ich ja mehr mit, als du glaubst.«
    Wie soll ich es erklären? Was soll ich erklären? Dass ich ein stehendes Gewässer bin, das nicht stehen will, das fließen will? Dass ich fließendes Wasser sein will, dass das stehende Wasser, das ich bin, hinauswill, fließen will, wegfließen will, anders sein will, Wege hinaus finden will? Tom sitzt neben mir, seine Hände und Füße bewegen sich in völliger Harmonie mit den Pedalen und dem Lenkrad und dem Schalthebel des Trucks. Tom Miller – das ist der Stein auf der Dorfwiese, der weiße Pavillon, die Fahrten durch die Dunkelheit, um sich an den Namen seines Vaters zu lehnen. Tom Miller – das ist der Heuboden und das Schaukelseil und das Fenster in der Scheunenwand, das weniger ein Fenster ist als eine Tür ins All. Durch die man geradewegs inden Himmel hineinspaziert. Jetzt stehe ich manchmal spätabends an diesem Fenster-das-kein-Fenster-ist und stelle mir vor, wie es wäre zu fallen.
    Was kann ich Tom sagen? Dass alles an mir wie taub ist und ich wieder etwas fühlen möchte? Dass ich geglaubt hatte, Jimmy und die anderen würden den Schmerz von meinem Herzen wegnehmen, ihn irgend woandershin verlagern, dass ich mich aber geirrt hatte? Er blieb, wo er war, der Schmerz, mitten in meinem Herzen . Alle Millers müssen da durch, durch diese Verrücktheiten , sagt William T. Aber ich bin Rose

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