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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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    »Auf meine Mutter.«
    »Wieso?«
    »Sie hat Ivy kein einziges Mal besucht. Sie hat keine Ahnung, wie es da ist. Sie überlässt alles William T. und mir. Sie sitzt bloß da und macht ihre bescheuerten Kraniche und guckt mich nicht mal an. ›Man kann nie wissen‹, sagt sie. ›Es soll schon Wunder gegeben haben.‹ Aber es gibt keine Wunder.«
    Das Licht in der Scheune von Mr. und Mrs. Buchholz, weit unterhalb von uns in Sterns Corners, leuchtet heller, je tiefer die Dämmerung wird.
    William T. hat mir einmal erzählt, die beiden würden nachts nackt in ihrer Scheune tanzen.
    »Vielleicht braucht sie das, glauben zu können, dass Wunder möglich sind«, sagt Tom. »Vielleicht ist sie nicht wie du – vielleicht kann sie Ivy nicht gehen lassen.«
    Ivy gehen lassen?
    Lasse ich Ivy gehen?
    »Hey«, sagt Tom. »Hey.«
    Aber ich kann nicht aufhören zu weinen. Wasser steht in meinen Augen und meiner Nase und meinem Hals, Wasser fließt aus mir heraus. Lasse ich meine Schwester gehen? Wer bin ich denn, wenn nicht Ivys Schwester? Wer werde ich sein, ohne sie neben mir?
    Tränen strömen überall aus mir heraus, und ich habe nichts außer meinem Ärmel, um mir die Nase abzuwischen, und dann ist mein Ärmel nass und verschmiert. Tom zieht sein Flanellhemdaus und legt es mir um. Tu keinem weh, dem du so wichtig bist. Sei nicht grausam.
    »Mir bricht das Herz«, sage ich ihm, und das ist die Wahrheit. Wenn einem das Herz bricht, dann spürt man den Schmerz ganz konkret, ganz körperlich. Du fühlst ihn, bei jedem Schlag einen neuen Schmerz, und du kannst tun, was du willst, es hört nicht auf, weder zu schlagen noch zu brechen.

10
    »Wie wär's, wenn du heute mal fährst, Kleine?«, fragt William T. »Jetzt, wo du den Bogen langsam raushast.«
    »Was? Ich soll dein Auto fahren?«
    »So ähnlich hatte ich mir das gedacht.«
    »William T., die Benzinanzeige funktioniert ja nicht mal. Was, wenn uns mitten auf der Route 12 der Sprit ausgeht?«
    »Wenn uns auf der Route 12 der Sprit ausgeht, dann fahren wir an den Straßenrand. Oder besser gesagt, wir rollen an den Rand. In so einer benzinlosen Situation ist rollen wohl der bessere Ausdruck.«
    »Und du kennst dich ja aus mit benzinlosen Situationen.«
    »Allerdings«, stimmt William T. mir zu.
    »Vielleicht sollten wir meine Mutter bitten mitzukommen.«
    William T. sagt nichts.
    »Ich meine, um die Monotonie ihres Daseins ein bisschen aufzubrechen. Wir könnten ihr vorschlagen – Überraschung! –, zur Abwechslung mal das zu tun, was normal wäre für eine Mutter, deren Tochter im Krankenhaus liegt – nämlich sie zu besuchen.«
    Wird der Tag je kommen, an dem meine Mutter ihre Papierquadrate beiseitelegt, ihre Hunderte von Kranichen wegschiebt und Ivys Zimmer betritt? William T. steckt sein Buttermesser in die Öffnung, in die in einer normalen Welt der Schlüssel gehörte –das Zündschloss musste er vor ein paar Wochen ausbauen –, und der Motor startet gehorsam.
    »Was ist das denn für eine Mutter, die ihre Tochter kein einziges Mal im Krankenhaus besucht?«
    »Eine Mutter, die tut, was sie kann.«
    »Und was genau wäre das? Tausend Papierkraniche falten?«
    »Ja.«
    »Hör schon auf.«
    »Warum bist du so wütend, Kleine?«
    »Himmelherrgott«, sage ich. »Erst Tom und jetzt du. Auf sie bin ich wütend.«
    »Auf wen?«
    »Auf sie! Meine Mutter!«
    »Bist du sicher, dass du nicht Ivy meinst?«
    »Quatsch!«
    Aber ich weine wieder. Schon wieder muss ich weinen. William T. lenkt den Truck an den Rand der Glass Factory Road, etwa eine halbe Meile vor der Einmündung in die Route 12.
    »Komm her«, sagt er und zieht mich über den Kardantunnel in der Mitte, bis ich auf seinem Schoß sitze, ein siebzehnjähriges Baby. Er langt an mir vorbei und klopft auf die kaputte Klappe vom Handschuhfach, bis sie aufspringt. Ein Haufen Servietten aus irgendwelchen Fastfood-Läden fällt heraus. William T. wischt mir über die Wangen und über die Augen und legt dann sein Kinn oben auf meinen Kopf, so als wäre ich seine kleine Tochter.
    »Wie kannst du so was behaupten – dass ich wütend bin auf Ivy?«
    »Behauptet habe ich das nicht – ich habe nur gefragt.«
    »Wie kannst du so was auch nur denken? Es war doch nicht Ivys Schuld.«
    »Ich weiß.«
    »Meine blöde Mutter sollte sie sehen! Bei ihr sein! Sie besuchen, ihre eigene Tochter, verdammt noch mal!«
    »Deine Mutter ist nicht normal.«
    Ich sehe ihn an. Damit hätte ich nie im Leben gerechnet, diesen Satz zu

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