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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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da, bis die Geräusche mit demNachthimmel verschmelzen, bis die Bilder in meinem Kopf mit der Dunkelheit verschmelzen, die aus den Bergen aufsteigt, bis meine Haut eins wird mit dem Stein, bis ich aufhöre zu weinen. Toms Arme liegen um mich, und wir lehnen uns an den polierten Stein. Unsere Atmung wird leichter und langsamer, bis sie der Stille der Nachtluft gleicht. Dann stehen wir auf und gehen über das taunasse Gras zum Truck, Tom hält mir die Beifahrertür auf, wir steigen ein und fahren zurück in die Ausläufer der Berge.

9
    »Komm morgen mit mir«, sage ich.
    Meine Mutter halbiert ein quadratisches Stück Zeitungspapier einmal und dann noch einmal, dreht es, faltet es, knittert es und streicht es wieder glatt, stupst dagegen, zart, ganz zart. Sanftes Zupfen und Stupsen.
    »In Japan glauben sie, wenn man tausend Papierkraniche faltet, hat man einen Wunsch frei«, sagt sie.
    Dreißig Meilen südlich bläst ein Beatmungsgerät säuselnd Luft in die Lungen meiner Schwester.
    »Komm mit mir.«
    »Es soll schon Wunder gegeben haben.«
    Sie faltet das nächste Stück Zeitungspapier. Wird sie jetzt aus allem Kraniche machen? Am Morgen, noch bevor sie zur Arbeit in die Brauerei gefahren ist, hatte sie schon ein Häuflein gefaltet, und als William T. mich nachmittags nach Hause gefahren hat, nachdem er mir Rühreier zubereitet hatte, lag da ein richtiger Berg.
    »Du hättest sie gehen lassen sollen.«
    Hatte ich gewusst, dass ich das sagen würde? Meine Mutter wirft mir einen skeptischen Blick zu.
    »Das kannst du nicht wissen. Vielleicht können sie sie eines Tages wieder gesund machen. Das kannst du nicht wissen. Keiner kann das wissen.«
    »Eines Tages? Und was ist mit heute?«
    Ich spucke die Worte regelrecht aus. So wütend bin ich. So wütend. Alles, was ich denken kann, was ich fühlen kann, ist aufkommende Wut, Wut, heiß und stark wie heißer schwarzer Kaffee, der stark und schwarz durch meine Adern und Arterien schießt, rhythmisch pochend mein Herz betritt und verlässt.
    » Du weißt es nicht! Du bist doch die, die keine Ahnung hat!«
    Meine Mutter sieht mich an.
    »Du bist sie nicht besuchen gegangen, nicht ein Mal! Du bist die, die nichts weiß! Nichts weißt du!«
    Meine Mutter schüttelt den Kopf.
    »Sie hätte es gehasst«, schrie ich. »Sie hätte es so verdammt gehasst.«
    »Ich hasse es!«, schreit meine Mutter zurück. »Ich hasse es! Ich hasse es!«
    »Ich hasse dich!«, schreie ich.
    Sie schüttelt immer weiter den Kopf. Die Hände fliegen über ihre Papierkraniche, sie zittern, als wären sie ein einziges lebendiges Wesen, ein eingesperrtes Wesen, das Schutz vor dem Lampenlicht sucht. Ich bin stehendes Wasser. Ich bin Wasser, das im Käfig meines Körpers eingesperrt ist. Ich bin Wasser, das hinausmöchte, das entkommen möchte, das dem eigenen Druck nicht mehr standhalten kann, das in mir pulsiert.
    Sie schüttelt und schüttelt und schüttelt den Kopf.
    Wenn du in dieser Welt leben willst, dann kommst du ums Autofahren nicht herum.
    Das hat William T. gesagt.
    Der rote Datsun steht im Maisfeld. Nachdem ich eine Weile versucht habe, erst vorwärts-, dann rückwärtszufahren, immer das Kreischen und Stöhnen des gequälten Metalls im Ohr, stelle ichden Motor ab, kurble mein Fenster herunter und auch das auf der Beifahrerseite. Sanfte Sommerluft weht herein, dazu der Klang der Grillen. Unter seiner Haube tickt der Motor.
    Lange sitze ich im Maisfeld.
    Will ich in dieser Welt leben?
    »Rose?«
    Toms Stimme. Zum Haus von William T. Jones geht es hoch hinauf, eine halbe Meile lang, und die Straße ist steil. Wenn du im Winter versuchst hochzufahren, halt bloß nicht an. Das haben die Jungen im Bus gesagt. Ich habe nicht gehört, wie Tom die Straße heruntergekommen ist. Auch nicht, wie er ins Maisfeld eingebogen ist, den Motor von Spooners Truck abgestellt und die verrostete Tür geöffnet hat und dann ausgestiegen ist.
    »Rose?«
    Seine Stimme, die durchs offene Fenster kommt.
    »Rose.«
    Jetzt ist seine Stimme keine Frage mehr. Aus einer Frage ist eine Feststellung geworden. Ich sehe auf. Sein Gesicht, sein Tom-Miller-Gesicht, späht zu meinem Fenster herein. Er hockt sich hin. Seine Haare haben jetzt schon helle Strähnen von der Sonne, die langen Junitage haben aus braun dunkelblond gemacht.
    Er klopft mit den Fingern an den Fensterrahmen. Tock-tock.
    »Sitzt du fest?«
    Ich nicke. Ja, ich sitze fest. Um uns herum wedeln junge Maispflanzen mit dichten grünen Blättern in der

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