Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
das auch an der neuen Schule zunächst stumm an der Seite seiner Schulbegleiterin dagesessen und nie seine Stimme erhoben hatte, auÃer um zu schreien und rauszurennen, konnte auf einmal einen Beitrag zum Unterricht leisten. Diese Beiträge waren klug und richtig. Simon zeigte, dass er vorgelesene Texte aufnahm, indem er problemlos die Fragen dazu beantwortete â durch Deuten auf die richtige unter den angebotenen Antworten. Irgendwann merkte Frau Kaarmann, dass sie sich das Vorlesen sparen konnte: Simon las. Er beherrschte Englisch, sein Wortschatz auch in der Fremdsprache war beachtlich, er rechnete und rechnete, sogar bis in den Millionenraum. Simon wurde das Kind, dem man die Fragen stellte, die keiner beantworten konnte; er konnte es.
In dem »Manifest«, das ich sechs Jahre zuvor für Simons Ãrzte geschrieben hatte, stand noch, dass ich bezweifele, dass Simon wisse, wozu Sprache gut sei, nämlich um seine Seele auszudrücken. Inzwischen waren bei manchen Menschen Zweifel aufgekommen, dass Simon überhaupt eine Seele hatte, dass er mehr war als ein falsch verschalteter Klumpen Fleisch ohne Empathie und Empfindungen. Jetzt konnte aufleuchten, was in ihm war.
Und wir lernten noch etwas, nämlich wie einseitig und ungenügend die Wertschätzung der rationalen Intelligenz ist. Wenn man von der Universität kommt, dann schätzt man, um es gelinde auszudrücken, Bildung und analytische Intelligenz übermäÃig hoch. Der Wert des Menschen misst sich für einen an seinen analytischen Fähigkeiten, an seinem Talent, eine brillante Theorie aufzustellen â und natürlich an dem rhetorischen Vermögen, sie darzustellen.
Mein Mann, meine Freunde und ich, wir waren Germanisten, Historiker und Philosophen, Ironiker allesamt und stolz darauf. Sozialwissenschaftler, »Psychos« und Erzieher, das waren für uns damals nicht einmal Wissenschaftler. Diese Wertorientierung, die einem Leute verdächtig macht, die mit den Regeln der Logik nicht viel anfangen können oder nicht wissen, dass Attila nicht der war, der mit den Elefanten über die Alpen ging, oder worum es sich bei einem akatalektischen Vers handelt, kippt, wenn man ein Kind bekommt, das möglicherweise geistig behindert ist. Erst in den Schmerz, dann in den Trotz. Und dann lernt man. Zum Beispiel, wie dankbar man für einen engagierten Erzieher oder Therapeuten sein kann. Für Menschen, die sich aus Interesse und Freude mit anderen Menschen beschäftigen, und zwar nicht wegen deren IQ . Die geistige Originalität in einem weiteren Sinn erfassen. Die vor allem eine Aura besitzen, die sie warm und zugänglich macht. Die Herz haben und Empathie. Was nützt einem Klugheit, las ich vor kurzem irgendwo, wenn sie weder weise noch gütig macht? Gar nichts.
Simon lieà das nur allzu offensichtlich werden. Es gab einfach Menschen, in deren bloÃer Gegenwart er sich öffnete, auf die er in einer Art und Weise zuging, von denen andere nur träumen konnten. Es gab Menschen, die ein Echo in ihm auslösten. Bei anderen blieb er taub und stumm.
Bei einem Abendessen hatte ich die Gelegenheit, einen unserer Nachbarn kennenzulernen, einen weiteren Philosophieprofessor; seine Forschungsgebiete waren bezeichnenderweise Glücksvorstellungen und Moral. Sein Weltbild lieà sich mit drei Sätzen umreiÃen: »Natürlich bin ich arrogant, ich kann es mir leisten.« â »Das hat uns früher auch nicht geschadet.« â Und: »Es sind eben nur zehn Prozent der Menschen bildbar.« Wenn all die Jahre des Studiums nicht mehr hervorgebracht hatten als das, dachte ich damals, dann war es kein Schaden, dass mein eigener Weg mich so weit vom akademischen Leben fortgeführt hatte. Diese Sorte Mensch hatte niemandem etwas zu geben, schon gar nicht Simon und mir.
Ich begann, die Echomenschen zu schätzen, die warmen, die auratischen, offenen. Die geerdeten und neugierigen, die herzlichen. Diejenigen, die uns sehr wohl etwas zu geben hatten. So wie jetzt seine Logopädin.
Nach der ersten Stunde befragt, ob er ihren Namen wiedergeben könne, machte Simon ihr das gröÃte Kompliment, das er zu vergeben hatte, indem er sie mit dem vielleicht hilfreichsten Menschen verglich, den er kannte. Er antwortete: »Das ist eine andere Frau Kaarmann.«
Julia Moll-Rakus, deren Gedicht im Geschwisterkinder-Kapitel steht, erzählte mir während unseres Mailaustausches, dass ihr
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