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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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herumlief und Sichtschutz spielte. Wir lachten und lachten über unser wunderbares Timing.
    Zu Hause dann ging Simon klaglos ins Bett und schlief zufrieden ein. Und ich war im Grunde ebenfalls froh, nicht mehr im Nassen zu liegen. Der Regen rauschte gegen das Fenster. Alles war gut.

»Bring ihn mir, wenn er Transzendentalphilosophie sagen kann.«
    So hatte sich einer meiner Studienkollegen, der folgerichtig später Professor für Philosophie wurde, nach Jonathans Geburt geäußert. Damals hatte ich das für einen gelungenen Scherz gehalten, aber damals hatte ich ja auch ein Kind, das sämtliche Anforderungen erfüllte. Jonathan sprach, also dachte er auch. Und wie er nachdachte! Vergrübelt und theorielastig. Mit sechs Jahren fragte er mich, ob die Welt eigentlich real sei oder nur in unseren Köpfen produziert werde.
    Â»Verstehst du mich, Mama?«, hatte er besorgt gefragt, und ich hatte voller Entzücken verstanden, schließlich hatte er die grundlegende Frage der Philosophie überhaupt aufgegriffen, die der Erkenntnismöglichkeit. Ich hatte ihm mit dem Gleichnis Brechts geantwortet, in dem erzählt wird, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern und Theologen sich in einem Kloster in den chinesischen Bergen traf, um die Frage ein für alle Mal zu klären. Leider, so die Geschichte, kam es nicht dazu, da vor Ende der Debatte ein Erdrutsch das Kloster mit Mann und Maus vernichtete.
    Simon nun konnte fast gar nicht sprechen. Es reichte knapp für die Verständigung über Essen und Trinken, aber keineswegs für irgendwelche reflektorischen Diskurse. Ob er dazu in der Lage gewesen wäre, überhaupt welche zu denken, das wussten wir zehn Jahre lang nicht. Der Satz von der Transzendentalphilosophie klang mit einem Mal ganz anders in meinen Ohren, bitter und höhnisch. Nach seiner Einstellung zur Frage der Erkenntnistheorie erforscht, hätte Simon sich bestenfalls als Solipsist outen können. Leider fehlten ihm die Worte dazu. Dachte er? Denkt jemand, wenn er nicht spricht oder provokativer gefragt: Wieso gehen wir davon aus, dass jemand nicht denken kann, nur weil er nicht so redet wie wir?
    Die Antwort auf diese Fragen fanden wir mit den ersten Worten, mit der Logopädie. Da war Simon acht Jahre alt.
    Frau Schleinich, Simons Logopädin, öffnete uns ein Jahr nach der Diagnose Autismus die Tür zum Geist unseres Sohnes, indem sie uns Gestützte Kommunikation lehrte. Sie war auf die Arbeit mit Autisten spezialisiert und bat mich gleich zu Anfang, keine überzogenen Erwartungen zu hegen. Es sei ein Weg, der vor uns liegt, den jeder für sich gehen müsse, in seiner Geschwindigkeit, nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Die Gestützte Kommunikation funktioniere nicht einfach wie ein Übersetzungsprogramm. Es gäbe Autisten, sagte sie, die erlernten das Tippen auf dem Buchstabenbrett recht rasch und begriffen auch durchaus die Möglichkeit, damit in einen Austausch mit ihrer Umwelt zu treten, entschieden sich dann aber dagegen, eben weil sie diesen Austausch nicht wollten. Sie habe ein Mädchen gehabt, das sich ganz bewusst und mit Vorankündigung wieder vom Kommunizieren verabschiedete, weil es sie überforderte, die Umwelt für den Kommunikationsakt wahrnehmen und sich ihr öffnen zu müssen. Sie blieb lieber ein Insich.
    Andere, wie ein Mädchen in Simons Alter, kämpften verbissen mit dem Buchstabenbrett, um endlich mit der Außenwelt in Kontakt zu kommen. Dieses Mädchen wollte es unbedingt schaffen, ein bestimmtes Wort laut auszusprechen. Diesen Wunsch hatte sie ihrer Therapeutin mit Hilfe des Buchstabenbretts mitgeteilt. Sie buchstabierte das Wort eigenwillig, es war nicht ohne weiteres zu verstehen. Wie sich endlich und nach einiger Mühe herausstellte, handelte es sich um den Namen des Pferdes, auf dem sie Therapiestunden hatte. Nach über einem Jahr des Ankämpfens gegen ihre Behinderung, nach zahllosen Versuchen des Artikulierens musste das Mädchen seinen Traum begraben. Die Laute wollten einfach nicht aus dem Mund kommen. Das geliebte Tier beim Namen zu nennen schaffte sie nie. Aber sie hat es versucht .
    Was würde Simon tun?
    Im Laufe vieler Monate lernten wir, er und ich, Gestützte Kommunikation und fanden darin den Schlüssel zu dem, was uns heute an Dialog möglich ist. Dank dieser Technik erkannten wir, dass Simon normal intelligent ist, wissbegierig und lernversessen.
    Das Kind,

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