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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Brett, war er äußerst hibbelig, sprang ständig wieder auf und lieferte meist nur Buchstabensalat ab.
    Inzwischen, nach drei Jahren, habe ich erstmals kleine Erfolge damit. Wenn er jetzt brüllt, sage ich streng und kühl: »Nee, du kannst mehr als den Schreihals geben. Jetzt hock dich hin und tipp mir, was du hast.« In der Hälfte der Fälle klappt das. Oft allerdings stellen seine Antworten mich genauso vor ein Rätsel wie seine Schreie.
    Neulich zum Beispiel bestand er darauf, »Oskar« haben zu wollen. Wer oder was Oskar sein sollte, war nicht zu eruieren. Ich ging alle Bücher, Filme, Spiele in Gedanken durch, fragte Lehrer und Betreuer, wir waren und blieben ratlos. Auf der Tipptafel gab er mir abwechselnd an, Oskar sei ein Kaninchen oder eine fiktive Figur. Nach Tagen kam ich darauf, einfach durch die Kontexte, in denen das Wort auftauchte, dass es sich um seinen Bruder Jonathan handeln musste. Er vermisste ihn, verständlich genug, und wollte ihn wiederhaben.
    Letztens erst hatten wir wieder so einen Fall klassischer Uneindeutigkeit. Er kam von dem Samstag bei seinem Vater völlig aufgelöst, lief wild herum und versuchte mir an den Hals zu greifen, wobei er ständig schwer verständliche Satzfetzen brabbelte. Offensichtlich war nur, dass er eine Mordswut im Bauch hatte, und dass sie mit seinem stattgefundenen Besuch beim Vater zusammenhängen musste. Getippt erhielt ich, im Abstand von einigen Stunden, folgende zwei Botschaften: »Der Papa hat mich gehauen« und »Der Papa hat mir den Wackelpudding nicht gegeben«. Das bot nun eine gewisse Bandbreite an Konfliktqualitäten. Denkbar als Anlass für einen Ausraster dieser Größenordnung war beides. Entweder oder? Weder noch? Oder sowohl als auch?
    Ein Anruf beim Vater ergab, dass Simon im Schwimmbad aus für ihn nicht ersichtlichen Gründen plötzlich losgeschrien und ständig nach seiner Brille gegrapscht hatte, weswegen er ihn laut schimpfte und ihm ernsthafte Vorhaltungen machte, in denen auch die Frage vorkam, wie das mal werden solle, wenn Simon größer wäre. Also weder noch. Simon, der nicht gerne geschimpft wird, war offenbar der Ansicht, dass ihm ein Unrecht angetan worden war, dessen Größenordnung sich im Bereich von Schlägen oder vorenthaltenem Pudding bewegte, weswegen es sich in dieser Form angemessen ausdrücken ließ.
    Natürlich ist eine weitere Lösung denkbar: Etwas, was weder der Vater noch ich bemerkt haben, hat Simon im Schwimmbad an jenem Samstag so aufgebracht, dass er schreien musste. Unsere anhaltende Unfähigkeit, diesen Umstand zu ergründen, sowie sein eigenes Unvermögen, es uns schlicht zu sagen, haben Simon so frustriert, dass er noch sonntags um Mitternacht nicht in den Schlaf fand. Ignorabimus. Ignorabimus, wirklich?
    Wochen später dann, nach viel Frust und Schreierei, waren wir so weit, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Oskars, Kaninchen und Wackelpudding verschwanden zusehends aus Simons Argumentationen. Das Verlangen nach dem Bruder dagegen blieb. Als es Stück für Stück umschlug in ständig wiederholtes Verlangen nach dem Vater – »Ich will zum Papa«, »Wo ist der Papa?« – als Wutanfälle dazukamen, gemurmelte Sätze und Augenblicke, in denen er einfach so in Tränen ausbrach, ergab sich endlich das Bild: Der Weggang des Bruders hatte bei Simon auch die Trennungsgeschichte seiner Eltern noch einmal aufgerührt. Plötzlich tat weh, was er die Jahre über wohl verdrängt hatte. Er wollte seine Familie wieder, und er war jetzt in der Lage, mir zu tippen, dass er sauwütend war, weil ich »den Papa nicht mehr mag«.
    Mit Tränen in den Augen versuchte er, als das endlich raus war, mich zu zwicken, dann wieder brüllte er los und drosch auf den Kleiderschrank ein. »Geh jetzt raus«, schrie er mich an.
    All das morgens um sechs war harter Tobak. Knapp drei Monate zuvor hatte sein ausziehender Bruder mich ganz ähnlich angeschrien, dass er mich hasse, weil ich seinen Vater verlassen habe und nicht mehr achte. Langsam wurde ich sauer: Ich war zwar diejenige, die gegangen war, aber ich war nicht die Einzige, die diese Beziehung innerlich gekündigt hatte und den jemand »nicht mehr mochte«. Ich hatte keine Lust mehr, die Schuldige für alle zu sein.
    Aber das war und blieb ein nebensächlicher Aspekt in dieser Auseinandersetzung. Wichtiger war: Es gab endlich eine

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