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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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das und ich werde unzufrieden und fange an zu toben.« Oder – denn Englisch beherrschte er ebenfalls fast fließend, wie wir feststellten: »I want a teacher who can tell me something about helium and chemistry.«
    Â»Ich will etwas über Relativitätstheorie wissen«, tippte Simon in sein iPad, »etwas über Haie«, »ich will gute Wasserexperimente«, »Bruchrechnen«, »etwas über das kaputte Atomkraftwerk«.
    Letzteres elektrisierte mich, denn sein Wunsch war sichtlich die Frucht der Gespräche, die ich mit Jonathan beim Frühstück über Fukushima geführt hatte, während Simon Salz in seinen Griesbrei schüttete und fürchterlich vor sich hin krümelte, dreimal aufsprang, um das Hundefutter zu kosten, und endlich verschwand, um noch Playstation zu spielen, ehe er sich zwei verschiedene Socken überzog für die Schule. In seinen eigenen Worten lautete das Statement folgendermaßen: »Richtig gut ist der title im radio zu hoeren, und so geht das: epalina und epalina und so weiter. Im radio singen sie das immer den ganzen tag. So schoen ist das und ich will es immer hoeren. Bis es teil meiner gedanken ist und ich es auswendig kann. Am liebsten den ganzen tag und die ganze nacht. Am liebsten alle tage und nächte und bis zum ende der welt. Denn das kommt bald weil das atomkraftwerk so kaputt ist und alle menschen sterben werden wenn sie verstrahlt sind. Da sind wir den atomen ausgesetzt und wir können nichts machen. Deshalb kann ich nicht schlafen.«
    Simon war in der Zeit tatsächlich abends unruhig gewesen und lange wach. Als ich das gelesen hatte, holte ich eine Weltkarte, zeigte ihm, wo Fukushima liegt und wie groß die Schutzzone ist. Danach schlief mein Sohn wieder besser.
    Völlig zuverlässig war das, was er da in der Schule tippte natürlich nicht: »Am Samstag habe ich einen katastrophalen tag erlebt. Da habe ich so eine wut gehabt, weil der papa mich so angeschrien hat. Da hat er einen christbaum suchen wollen im wald und er hat einen tag lang gesucht. Und dann ist er zornig geworden weil er nicht fündig wurde.« Einen Christbaum? Der Eintrag, ein »Redebeitrag« aus dem montäglichen Morgenkreis, stammte vom April! Wahr ist allerdings, dass Simon an jenem Samstag bei seinem Vater war. Und dass er den Tag als katastrophal erlebte, glaube ich ihm. Aber warum das so war, das konnte er nicht erklären. Der Weihnachtsbaum, den wir in der Tat, noch als heile Familie, viele Jahre zuvor selbst im Wald geschlagen hatten, taugte in dieser Situation nicht einmal als Metapher.
    Im selben Zug erzählte Simon, er habe mit mir am Sonntag drauf eine Radtour nach Ravensburg unternommen, wo es »turtle tart« gab. Und er sei wütend auf mich gewesen, weil ich ihm ein Kuchenstück unterschlagen hätte. Wir waren nie in Ravensburg, wenn wir auch manchmal Radtouren machen, und viel Kuchen essen wir auch, schon weil Simon so auf Süßes versessen ist. Dass es einen »turtle tart« wirklich gibt, wusste ich allerdings mit meinen sechs Jahren Schulenglisch nicht.
    So mischt sich in Simons Aussagen Verblüffendes mit Phantastischem, Reales mit Erinnertem, Fiktives mit Metaphorischem. Er trennt nicht scharf zwischen verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen und macht es einem damit extrem schwer, ihm zu folgen. Bruchrechnen und Helium sind zweifellos Themen, die zu bewältigen ihm leichter fallen als seine persönliche Geschichte und seine Empfindungen.
    Jüngst fertigte Simon eine Übersetzung des Songs »Mad world« von Tears for Fears an, das er zu seinem Lieblingslied erklärte, »weil der Text richtig gut ist«. So weit scheint er wie andere Teenager zu sein und die Popmusik so etwas wie der Spiegel seiner Seele. Wenn Sie das Lied kennen, dann wissen Sie, dass Simons Seele zu den melancholischen gehört.
    Zu Hause ging die kommunikative Entwicklung insgesamt ein wenig schleppender voran als in der Schule. Zwar erledigte Simon brav alle Hausaufgaben – er übersetzt gerade »Den kleinen Prinz« aus dem Englischen quasi vom Blatt – und subtrahierte anstandslos sechsstellige Zahlen. Mit mir frei kommunizieren jedoch wollte er lange nicht. Wenn ich das Buchstabenbrett herausholte, um von ihm zu erfahren, warum er jetzt wieder nach mir geschlagen oder aufgeschrien hatte, dann brüllte er »nein«, rannte in sein Zimmer und knallte die Tür zu. Zwang ich ihn doch ans

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