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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Bruder schon fast dreißig war, als er gestützt zu kommunizieren lernte. Er gehört einer Generation an, in der Autismus noch eine wenig bekannte Krankheit war und die Therapiemöglichkeiten eingeschränkt bis inexistent. Einer seiner ersten Sätze war: »Der Kopf ist nicht dumm, aber alle denken das.« Bei Simon war es ähnlich. Auch wenn es lange dauerte bis zu seinem ersten Satz.
    Wir begannen damit, ihn fehlende Buchstaben in Wörtern bezeichnen zu lassen. » W_lke . Tipp auf den Buchstaben, der eingesetzt werden muss.« Dann legten wir ihm Bildkarten vor. Er sollte tippen, was er sah: Katze, Baum, Wolke, Frosch. Anfangs musste man die Wörter noch laut dazu aussprechen, später schaffte er es, sie ohne die lautliche Brücke vom Bild weg in Buchstaben umzusetzen, ein Prozess, der Autisten offenbar schwerer fällt.
    Mit der Zeit wurden die Wörter länger, die Bilder komplexer. Wir fanden zu Zweiwort- und Mehrwortsätzen »Der Mann isst Suppe.« – »Die Frau mäht den Rasen.« Der nächste Schwierigkeitsgrad war das freie Formulieren. Was kann man über einen Tisch sagen? Was würden Sie über einen Tisch sagen wollen?
    Â»Er ist aus Holz«, schlug die Therapeutin vor. Simon war gefordert und tippte: »An einem Tisch kann man essen.«
    Es folgten kleine Dialoge. »Was macht ein Gespenst?«
    Â»Ein Gespenst tut Dinge.«
    Â»Was für Dinge?«
    Â»Gruselige.«
    So mager dieser Dialog war, für mich war er seinerzeit eine Offenbarung.
    Die Erkenntnis, dass Simon flüssig lesen konnte, fiel als Nebenprodukt dieser Übungen an. Sicher waren wir, als er dazu überging, Fragen zu ganzen Texten statt zu Bildkarten zu beantworten, ohne dass ihm diese Texte laut vorgelesen worden waren. Damit war dann auch ein Modell für den Sachkundeunterricht in der Schule gegeben: Er bekam Texte gezeigt und dazu Fragen vorgelegt, erst im Multiple-Choice-Verfahren, dann mit freier Antwortmöglichkeit. Es funktionierte.
    So arbeitete mein Sohn sich durch die Stunden, ich absolvierte parallel Seminare im Stützen und wurde auch immer wieder in die Therapiesitzungen gebeten, wo ich ihn stützte, während die Therapeutin uns beobachtete, korrigierte und an unserem Stil feilte. »Achten Sie darauf, dass er sich nicht gegen die Bewegung spannt.« – »Vergessen Sie nicht, die getippten Buchstaben laut zu benennen.« – »Leerzeichen nach jedem Wort nicht vergessen.« – »Stellen Sie sicher, dass er gut sitzt und die Füße Bodenkontakt haben.« Zu Hause arbeiteten wir unsere Hausaufgaben ab.
    Ich versuchte bald, vermutlich viel zu früh, Simon kleine Fragen zu stellen. Ich war einfach süchtig danach, seine »Stimme« zu hören. »Was macht ein Schiff, mein Schatz?«, fragte ich entsprechend der Aufgabenstellung. Simons Antwort lautete: »Es fährt auf dem Meer.« Sofort versuchte ich, der Sache einen persönlichen Dreh zu geben: »Wo würdest du hinfahren wollen?« Und mein Sohn antwortete: »Nach Sardinien.«
    Sardinien, das war der mythische Sommerort meiner Kindheit. Als Erwachsene war ich mehrfach mit meinen eigenen Kindern dort gewesen, vor fast zehn Jahren, als Simon noch klein und scheinbar heil war, bevor der Kindergartenzusammenbruch gekommen war und wir nie wieder wegfahren konnten. Es gab Fotos davon, Bilder von Simon mit sonnengebleichten Haaren und sandgepuderter Karamellhaut, wie er im unsicheren Lauflerngang über den Sand watschelte. Es rührte mich zu erfahren, dass er dort noch einmal hinwollte, hatte ich doch nicht einmal gedacht, dass er sich daran erinnern konnte. Immer wieder und immer öfter gelang es mir so, einen kleinen Blick auf den inneren Simon zu werfen.
    Der Prozess des Tippenlernens dauerte alles in allem zwei Jahre. In der Schule war Simon danach so weit, am Unterricht aktiv teilzunehmen, schriftlich Aufgaben zu erledigen, sich im Morgenkreis zu äußern und zu zeigen, was er konnte. Er bearbeitete die für ihn aufbereiteten Stoffe am Tippbrett und bald auch am Computer. Frau Kaarmann besorgte ihm ein iPad, weil das »weniger behindert aussah«, sondern im Gegenteil richtig cool, und weil es so bequem überall dabei sein konnte.
    Nein, Simon war nicht »so weit«, es zeigte sich, er war weiter. Er tippte: »ich will richtig lernen und das in einer anderen schule und der olle unterricht macht mich verrückt. tuppertei ist

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