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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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vierunddreißig Grad, der Himmel ist glasklar – ein Wetter zum Durchdrehen.
    »Ich habe hier noch ein bisschen Bier.« Der Punk hält mir seine Bierdose vor die Nase. »Soll ich es vielleicht wegschütten? Ich glaube, ich habe gar keine Lust mehr«, überlegt er genüsslich. Die Punks in unserer Gegend sind sehr verwöhnt.
    Wir ziehen weiter und bleiben am Schaufenster unserer Videothek kleben. Dort, in einem großen Fernseher, kann man rund um die Uhr auf alte bekannte Gesichter treffen – die Biene Maja, Silvester Stallone, Sharon Stone und die Teletubbies. Außerdem kennen wir die rothaarige Gaby, die hinter dem Tresen in der Videothek arbeitet. Doch sie haben keine Klimaanlage im Laden, drinnen ist noch heißer als draußen, und die Hitze treibt uns zurück an unser Eck. Dort verstecken wir uns in unserer Stammkneipe, dem Bar-Restaurant Amsterdam.
    Hier ist es angenehm kühl, die Bedienung freundlich, alle sehen wie Zwillinge aus, haben die gleichen Tattoos an den gleichen Stellen und ähnliche Frisuren. Rund um die Uhr hört man denselben Techno-Titel, was gut fürs Herz ist, sagen jedenfalls die Ärzte. Im Amsterdam sitzen die Jungs meistens mit Jungs zusammen und die Mädels mit Mädels, und alle haben einander lieb. Genau wie in Sebastians Kindergarten. Ich bestelle ein alkoholfreies Getränk mit dem szenetypischen Namen »Leck my Pussy«, dazu einen Apfelsaft für Sebastian. Neben uns auf der Bank sitzen zwei ältere Herren in Anzügen und knutschen. Manchmal stoßen sie mit den Glatzen an.
    »Warum knutschen die Opas?«, fragt mich mein Sohn. Er rutscht näher zu den beiden und schaut sie freundlich an. Sebastian mag es, wenn die Menschen einander lieb haben. Plötzlich verdunkelt sich draußen der Himmel, man hört einen Knall, ein Donnerwetter, die Feuerwehrwagen rauschen an der Kneipe vorbei.
    »Mein Herz!«, schreit ein dicker Gast, »es schlägt nicht mehr.«
    »Es geht los!«, meint mein Sohn und kichert.

Unsere Dialekte
    »Wachsen eure Kinder deutsch oder russisch auf?«, fragte mich mein alter Bekannter Andrej, ein russischer Journalist.
    Wir wussten es nicht so recht.
    »Am wichtigsten sind immer die ersten Worte, die ein Kind von sich gibt«, klärte uns Andrej auf. »Wenn die ersten Worte russische waren, dann sind eure Kinder Russen«, meinte er.
    Doch selbst diese einfachen Kriterien brachten in unserem Fall keine Klarheit. Denn die ersten Worte unserer Kinder waren international. Zuerst »Mama« und »Papa«, dann »Auto« und etwas später, ziemlich überraschend, »Idioten«. Letzteres wurde bei meinem Sohn Sebastian schnell zu einem Lieblingswort. Dabei hatte das Wort »Idioten« für ihn nichts Abwertendes, es war eher ein Grußwort. Wenn Sebastian gut ausgeschlafen in seinem Kinderwagen zum Kindergarten rollte, winkte er freundlich den Menschen auf der Straße zu und rief begeistert: »Idioten! Idioten!« Unserem Bekannten Andrej sagten wir, das sei hier so üblich, unsere Kinder sprächen »Berliner Dialekt«.
    Trotzdem machten wir uns Sorgen. Wo hatte der kleine Junge nur ein solches Wort her? Bei uns zu Hause konnte er das nicht aufgeschnappt haben. Vielleicht im Kindergarten? Das hielt ich auch für ziemlich unwahrscheinlich, denn von den Erzieherinnen beziehungsweise Kindergartengenossen meines Sohnes hatte ich Derartiges noch nie gehört. Die einzige Quelle, die in Frage kam, war mein Vater, also Opa Vitja. Er hatte manchmal eine etwas depressive Lebenseinstellung, besonderes wenn er unter dem Einfluss eines Sechserpacks Berliner Kindl stand. Dann schimpfte er gelegentlich vor sich hin.
    Doch der Opa stritt alles ab, niemals würde er sich in Anwesenheit von Minderjährigen solche Begriffe erlauben. Wenn die Enkelkinder zu Besuch da wären, spräche er nur Hochrussisch, behauptete mein Vater. Er fühlte sich verleumdet und forderte eine Gegenüberstellung. Sebastian sagte weiterhin zu allem und allen »Idioten«.
    »Du darfst so etwas zu den Leuten nicht sagen«, belehrte ich ihn. »Das sind Fußgänger.«
    Dieses Wort war jedoch für ihn noch zu kompliziert, und etwas Besseres war mir nicht eingefallen. Also blieben wir beim »Berliner Dialekt«. Nicht nur die Menschen auf der Straße, auch die Nudeln auf dem Teller, Flugzeuge am Himmel und Seifenblasen auf dem Balkon waren »Idioten«.
    Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich meinem Sohn keine gute Alternative für diesen umfassenden Begriff geben konnte. Ich musste selbst noch viel lernen. Gerade letzte Woche bekam ich

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