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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Satz ist auch meine Generation groß geworden. Alle Jungs wollten Kosmonauten, die Mädchen Ballerinas werden. Mit dem Fall des Sozialismus landeten wir aber auf dem freien Markt, wo ganz andere Berufe gefragt sind. Es gab nicht genug Raumschiffe und Tanzbühnen, dafür aber ganz viel Platz im Dienstleistungsbereich. Also wurden die meisten verhinderten Kosmonauten und Ballerinas Friseure, Kassierer oder Verkäufer hinter Ladentresen. Sie haben inzwischen gelernt, wie man Haare schneidet und Geld zählt, aber bedienen wollen sie trotzdem nicht. Ähnliches gilt für das wiedervereinigte Deutschland. Die Westdeutschen schimpfen oft und gerne auf die Ostdeutschen, wenn sie an der Ostsee Urlaub machen oder, noch schlimmer, im Osten einkaufen gehen. Bei sich zu Hause in Baden-Baden werden sie in jedem Laden von allen Seiten ausführlich bedient, und jeder Wunsch von ihnen wird als Befehl begriffen. Im Osten dagegen bekommen sie höchstens ein »Guten Tag« oder »Ham wa nich!« zu hören. »Diese sozialistische Mentalität!«, stöhnen die Kunden. »Das ist ja wie in Russland.«
    Meine Landsleute sehen das anders. Sie schätzen das Service-Niveau des Ostens sehr hoch ein. Neulich hatte ich Besuch aus Moskau. Meine Cousine mit ihren Zwillingen wohnte bei uns und ging jeden Tag auf die Schönhauser Allee, um einzukaufen. Und immer wieder wunderte sie sich, wie nett und hilfsbereit die Verkäufer hier waren, vor allem geduldig, selbst dem hämischsten Konsumenten gegenüber.
    »Stell dir mal vor«, erzählte meine Cousine mir, »gestern rebellierte ein Dicker in einem Jeansladen: ›Wieso sind die Jeans so teuer, ich habe vor zehn Jahren genau dieselbe Hose zum halben Preis bekommen!‹ Also bei uns hätte er sofort eine in die Fresse gekriegt, aber die Verkäuferin hier lächelte ihn nur an und sagte gar nichts. Diese Dienstleister, die haben vielleicht eine Geduld.«
    Als ich das hörte, musste ich gleich an meine Mutter denken, die neulich in Moskau einkaufen gegangen war und eine Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft gefragt hatte: »Können Sie mir nicht sagen, was auf dieser Dose steht, ich kann es nicht richtig lesen?«
    »Dann kauf dir eine Brille«, hatte die Verkäuferin zu ihr gesagt und weiter gelangweilt in ihrer Zeitung gelesen.
    Meine Mutter war regelrecht begeistert von so viel Unverschämtheit, und weil so etwas in der Ex-DDR nicht mehr vorkommt, ist der Osten für die durchreisenden Russen Westen. Ich dagegen lebe permanent hier und weiß von daher, dass man auch auf der Schönhauser Allee ein gutes Stück meiner alten Heimat treffen kann. Zum Beispiel sagte einmal eine ältere Kassiererin in der großen Kaiser’s- Filialeder Allee Arcaden zu ihrer jungen Kollegin: »Mach den Laden dicht, geh in die Mittagspause.« Die Schlange vor der Kasse war gute zwanzig Meter lang.
    »Aber ich habe gerade so viele Kunden«, meinte die Neue verzweifelt.
    »Mach zu, Herr Kaiser wird sich für deine Mühe nicht bedanken«, rief die ältere Kollegin laut und schaute über die Schlange hinweg Richtung Decke.
    Das erinnerte mich sofort an eine Szene aus unserem Moskauer Supermarkt Kunzevo. Dort hatte die Kassiererin plötzlich böse über die Köpfe der Schlange stehenden Menschen geschaut und gerufen: »Wozu habe ich fünf Jahre lang Festigkeitslehre studiert?« Alle schwiegen. Niemand wusste, wofür die Kassiererin fünf Jahre lang Festigkeitslehre studiert hatte. Viele wussten wahrscheinlich nicht einmal, was Festigkeitslehre überhaupt war. Es breitete sich eine bedrückende Stille in der Menge vor der Kasse aus. Die Kassiererin holte zweimal tief Luft und rief: »Wozu, frage ich euch. Hier wird jetzt nicht mehr bedient!« – und ging.
    »Wo will sie denn hin, was soll diese Schweinerei?«, regte sich ein Mann in der Schlange auf.
    »Halt’s Maul, sie hat fünf Jahre Festigkeitslehre studiert«, sagten die anderen zu ihm. Sie hatten Mitleid mit der Kassiererin.
    Die Sache mit der Service-Mentalität ist damit eigentlich klar. Der Verkäufer ist wie der Käufer. Ob in Moskau oder in Berlin, sie sind nicht irgendwie besonders reizbar oder menschenfeindlich, sie haben bestimmt ein großes Herz für Tiere, und viele lieben ihren Job tatsächlich. Nur oft haben sie einfach keine Lust. Und das ist eine echte Errungenschaft der alten Arbeiterbewegung.

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