Ich mach mir Sorgen, Mama
Wintermenschen eroberten die Straßen. Nachts kam die Kälte. Alle Blumen auf unserem Balkon knickten ein, außer dem »Morgenrötchen«. Es würde wahrscheinlich selbst am Nordpol überleben. Meine Frau hatte diese Pflanze vor zwei Jahren, als wir im Nordkaukasus ihre Eltern besuchten, einem alten Schwindler auf dem Markt abgekauft, nur weil er ihr Leid tat. Er war nicht mehr nüchtern und stand mit einer einzigen Zwiebel da, obwohl es auf diesem protzigen Markt alles im Überfluss gab.
Der alte Mann erzählte, dies sei eine Raubpflanze von ungeahnter Schönheit, die aus einem geheimen genetischen Labor geklaut worden sei. Sie würde sich von Mücken und Fliegen ernähren und jeden Monat anders riechen. Eine Wunderpflanze also. Wir lassen uns gern mit solchen Geschichten verarschen. Also kaufte meine Frau dem alten Genetiker die Zwiebel für drei Dollar ab. Natürlich glaubte ich nicht, dass aus dieser Zwiebel überhaupt irgendetwas werden würde, schon gar nicht auf unserem Berliner Balkon. Nicht einmal eine stinknormale Gladiole.
Meine Ungläubigkeit hielt sich nicht lange. Schon nach einem Monat kam aus der Zwiebel ein ganzer Busch heraus, der von meiner Frau zärtlich »Morgenrötchen« genannt wurde und inzwischen über die Hälfte unseres Balkons einnimmt. Das »Morgenrötchen« bekam nie eine Blüte, es aß auch keine Mücken oder gar Tauben, es rülpste nicht und sah auch nicht besonders toll aus. Aber es wuchs und wuchs. Schweigsam und unaufhaltsam verdrängte die Pflanze selbst uns vom Balkon.
Ein interkultureller Dialog mit dieser grünen kaukasischen Bedrohung war unmöglich. Was wollte sie mit ihrem ständigen Wachstum erreichen? Ich glaubte, das Problem der Pflanze »Morgenrötchen« war, dass sie nichts zu tun hat. Sie sollte einmal ihr Pflanzendasein überdenken und zum Beispiel anfangen, wie die anderen Pflanzen Sauerstoff zu produzieren oder tatsächlich Mücken zu jagen. Ich hielt sie für faul. Meine Frau dagegen hielt diese Pflanze für »intelligent« und »lebenslustig«. Außerdem erinnerte dieses »Morgenrötchen« sie an das gesunde ländliche Leben, wo alles blühte, wuchs und gedieh.
Meine Tochter meinte neulich, sie würde am liebsten zu ihrem nächsten Geburtstag auch etwas Lebendiges haben. Sie zeigte mir das Bild, das sie gemalt hatte.
»Ganz toll«, sagte ich, »du hast eine sehr sympathische Schnecke gezeichnet. Leider können Schnecken im Winter nicht leben. Sie schlafen sofort alle ein.«
»Papa, hast du etwa keine Augen?«, konterte meine Tochter empört. »Das ist keine Schnecke, das ist eine kleine Kuh. Sie ist menschenfreundlich und außerdem eine große Hilfe im Haushalt. Hätten wir eine kleine Kuh zu Hause, dann müsstest du nicht jeden Tag literweise Milch nach Hause schleppen. Dann könnte Mama unsere Kuh in der Küche melken und fertig.«
Ich stellte mir vor, wie meine Frau in unserer Küche mitten in einer »Morgenrötchen«-Plantage eine kleine Kuh melkt, und war von der Idee sofort hingerissen. Vielleicht machen wir noch Schönhauser-Allee-Käse daraus.
Zwei zweieiige Zwillinge
entdecken Berlin
Meine Cousine Jana aus Moskau rief uns an und erzählte, dass es ihr momentan schlecht gehe. Das Wetter sei beschissen, ihr Job eine einzige Qual, die Katze krank, die Kinder frech und faul, der Mann ständig betrunken, das Geld ständig alle. Uns ging es gerade gut, unsere Kinder waren zahm, die Katze schwanger und glücklich, das Wetter optimal.
»Du kannst doch zu uns kommen«, schlug ich ihr leichten Herzens vor, »ein kleiner Urlaub wird dir gut tun. Und bring deine Kinder, deine Katze und deinen Mann mit, wir haben viel Platz und einen Balkon.«
Zwei Wochen später kam Jana nach Berlin, ohne Katze und Mann, dafür aber mit ihren zweieiigen Zwillingen Tim und Tom. Beide sahen gleich aus und waren zehn Jahre alt. Schon am Bahnhof Lichtenberg fingen sie an, das Ausland für sich zu entdecken.
»Verstehen alle diese Menschen Russisch?«, fragte Tom. »Nein? Dann können wir sie beschimpfen, wie wir wollen. Dürfen wir zum Taxifahrer ›blöde Sau‹ sagen?«
Ununterbrochen stellten sie Fragen, nacheinander, durcheinander, oft im Chor. Meine Cousine kannte ihre Kinder gut und wusste, dass diese Fragen rein rethorischer Art waren. Sie antwortete nicht. Ich dafür umso mehr. Zu Hause interviewten mich die Zwillinge weiter. Ausführlich und präzise. Drei Wochen lang. Der Tag fing früh an. Um sieben spürte ich, wie eine unbekannte Kraft mich aus dem Schlaf riss.
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