Ich mag dich wie du bist
meine Eltern Luca eingeladen haben, mit ans Meer zu kommen, und wir uns daher nicht sehen können. Er hat darauf mit einem neutralen »Okay« reagiert. Als ich ihm noch sagte, dass ich danach so gegen sechs ins Chiringuito kommen würde, meinte er nur, wir sähen uns dann dort, schließlich müsste ja auch Luca wieder zum Campingplatz zurück, oder?
Er wirkte auf mich reichlich angefressen. Da bekam ich auf einmal Panik, dass Lucas Besuch die Dinge zwischen Daniele und mir gefährden und, ja, ganz allgemein meine Sommerferien stören könnte.
Der Urlaub hatte gerade begonnen, sich in die richtige Richtung zu entwickeln, und jetzt, wo Luca da ist, ist es, als wäre das gesamte letzte Schuljahr, mitsamt der Sitzenbleiberei und allem Drum und Dran, zu Besuch gekommen.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Kalender und dem Religionslehrer.
Mein Religionslehrer ist einer der wenigen aufgeklärten Theologen und davon überzeugt, dass man in der Schule nicht nur etwas über die Religion, sondern über alle Religionen lernen sollte.
In einer der ersten Stunden erklärte er uns, dass die Menschen ihren Kalender nach einem Ereignis erstellen, das sie für einzigartig und vor allem für bedeutsam halten. Daher zählen die Katholiken die Jahre ab der Geburt Jesu, während die antiken Heiden die Olympiaden als Ausgangspunkt benutzten. Denn Heiden kennen ja kein spezielles Geburtsjahr oder eine Offenbarung Gottes. Am Ende der Stunde forderte er uns auf, einen Kalender auf Grundlage eines für die Gesellschaft wichtigen Parameters zu erstellen.
Dabei kamen alle möglichen Kalender heraus.
Zu den besten Ereignissen, die als Jahr null gewählt wurden, gehörten: die Erfindung der Pizza Margherita, die erste gewonnene Meisterschaft von Inter Mailand, die erste Folge von Big Brother , aber auch die Erfindung des Internets, die kubanische Revolution und die Gründung der Italienischen Republik.
Diese Übung hatte folgenden Sinn: Die Entscheidung für das Jahr null wird immer im Nachhinein getroffen, wenn die Geschichte die Bedeutung dieses Ereignisses gezeigt hat und wie es die Sichtweise auf zukünftige Geschehnisse beeinflusst.
Einige Monate nach dieser Stunde habe ich zum ersten Mal mit Luca geschlafen, und am Tag danach erinnerte ich mich wieder daran und dachte, dass dieses Ereignis nun für mich so etwas wie das Jahr null bedeuten würde. Ich musste über mich selbst und über diesen Gedanken lachen. Denn eigentlich dachte ich nicht, dass er mich für die nächsten Jahre verfolgen würde.
Ich möchte meinen Kalender ändern, ich möchte das Kapitel Luca abschließen. Aber mir wird klar, dass es gar nicht so leicht ist, und die Tatsache, dass Luca hier am Strand neben mir liegt, macht die ganze Sache sicher nicht einfacher.
»Ali, ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja, ich habe nur schlecht geschlafen, ich hatte einen Albtraum.«
»Was denn für einen?«
»Ach, lauter wirres Zeug. Ich war im Schlafanzug in der Schule und musste das ganze Gymnasium noch einmal von vorne beginnen. Na ja, ich denke, das ist wohl der klassische Albtraum eines jeden Sitzenbleibers.«
Luca guckt mich an und setzt dazu ein ernstes Gesicht auf, aber man merkt ganz genau, dass er sich das Lachen verkneift.
»Was gibt’s denn da zu lachen?«
»Nichts, gar nichts, Ali, du solltest bloß mit deinen Gedanken lieber ganz im Hier und Jetzt im Salento sein. Deine Freunde zum Beispiel, die sind richtig nett, oder?«
»Ja, stimmt, ich bin gern mit ihnen zusammen.«
»Auch der Rasta.«
»Ja.«
»Aber du bist komisch, Ali.«
»Blödsinn, warum denn?«
»Weil du mir seit heute Morgen nicht in die Augen siehst.«
»Aber nein, das stimmt doch gar nicht.«
»Doch.«
»Das ist nur, weil ich mit den Gedanken woanders bin.«
»Und an was denkst du?«
»Na ja, ich habe die ganze Zeit gar nicht mehr an Mailand und das vergangene Schuljahr gedacht. Und jetzt auf einmal, wo du da bist …«
»Habe ich das alles mitgeschleppt, das ist es, oder?«
»Nein, na ja, ich will jetzt nicht sagen, dass es deine Schuld ist, aber … du hast mich wieder mit beiden Beinen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.«
»Soll ich lieber wieder verschwinden?«
»Ach Quatsch, jetzt sei nicht blöd. Es ist nur so, ich hatte gerade angefangen, ein wenig zu mir selbst zu finden, und du hast mich jetzt wieder aus dem Gleichgewicht gebracht.«
»Ich bring dich aus dem Gleichgewicht?«
»Nimm’s mir nicht übel, ich bin nicht sauer auf dich oder so, ich hatte mich nur
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