Ich muss Sie küssen, Miss Dove
nicht ab. „Ihre ersten Beiträge sprechen wir also Mittwoch in einer Woche durch. Für den Tag habe ich bislang noch keine Termine." Er runzelte die Stirn. „Zumindest glaube ich, dass ich keine habe. Bei dem Sekretär, der jetzt für mich arbeitet, kann ich mir nie ganz sicher sein."
„Um wie viel Uhr wollen wir uns treffen, und wo?"
„Um neun Uhr morgens in meinem Büro."
Sie lachte. „Kommen Sie nicht zu spät."
„Ohne Sie verspäte ich mich neuerdings ständig." Er sah nach links und rechts, um nach einer Lücke im dichten Verkehr Ausschau zu halten, damit er die Straße überqueren konnte. „Aber ich werde mir alle Mühe geben, pünktlich zu sein, schon allein, damit sich Ihre Meinung über mich bessert."
Sie wandte sich zum Gehen, aber sie war erst ein paar Schritte weit gelaufen, als er ihr nachrief. „Miss Dove?"
Sie sah über ihre Schulter und merkte, dass er lächelte.
„Wenn Sie hartnäckig geblieben wären, hätte ich Ihnen fünfzig Prozent gezahlt", verriet er ihr.
„Und wenn Sie hartnäckig geblieben wären", konterte sie, „müssten Sie mir jetzt nur zehn Prozent zahlen! "
Harry lachte kurz auf. Bei Gott, Miss Dove hatte Esprit. Wer hätte das gedacht? Er blickte ihr nach und erkannte, dass Humor ein weiterer Charakterzug war, den er noch nie an ihr bemerkt hatte.
Sie hatte seine Einschätzung ihrer Person genau getroffen. Er hatte sie für staubtrocken gehalten, aber ihre letzten Worte eben und ihr Schmunzeln verrieten ihm, dass er auch in dieser Hinsicht einem Irrtum unterlegen war. Das traf genauso für das Interesse der Leser an ihrer Kolumne zu. Wie es aussah, hatte er sich in einer ganzen Reihe von Dingen getäuscht.
Er hatte sie immer für eher unscheinbar gehalten, zumindest bis zu dem Tag, als er herausfand, dass ihr Haar rötlich schimmerte und Goldfunken aus ihren Augen sprühten. Er dachte daran, wie sie vorhin ausgesehen hatte, atemlos lachend, als sie ihm sagte, er sollte nicht zu spät kommen, und er begriff, dass er sie noch nie zuvor hatte lachen sehen. Das war sehr schade, denn wenn ein Lachen ihre Züge erhellte, war Miss Dove ganz und gar nicht unscheinbar.
Eins stand fest - sie mochte ihn nicht. Das warf ihn etwas aus der Bahn. Normalerweise mochten ihn die Frauen, das wusste er, ohne übermäßig eingebildet zu sein. Andererseits gab Miss Dove ihm Anlass, vieles anzuzweifeln, was er vorher zu wissen geglaubt hatte.
Es war offensichtlich, dass sie im Lauf der Jahre einige Rückschlüsse auf seinen Charakter gezogen hatte - und er hatte nicht die geringste Ahnung davon gehabt. Sie mochte ihn nicht, trotzdem war sie ihm fünf Jahre lang zu Diensten gewesen. Warum?
Fasziniert sah er ihrer schlanken, aufrechten Gestalt nach und allmählich schwante ihm, dass er in dieser neuen, gleichberechtigten Partnerschaft, die sie führen sollten, erheblich im Nachteil war. Sie kannte ihn viel besser als er sie.
Es war unvermeidlich, dass er in dieser Hinsicht einen Ausgleich schaffte und sie seinerseits ein wenig genauer studierte. Sein nachdenklicher Blick fiel auf den Schwung ihrer Hüften. Alles im Namen der Gleichberechtigung, natürlich.
8. KAPITEL
Von einem Gentleman wird Ritterlichkeit erwartet. Das kann aber auch äußerst lohnende Folgen haben.
Lord Marlowes Junggesellenmagazin, 1893
Miss Dove war schon immer tüchtig gewesen, und daher überraschte es Harry nicht, als er ihre gesamten Artikel für die Erstausgabe der neuen Social Gazette schon drei Tage früher als geplant erhielt. Nachdem er sie gelesen hatte, wurden ihm zwei Dinge klar. Zum einen, Miss Dove konnte tatsächlich schreiben. Zum anderen — ganz gleich wie exzellent ihre Formulierungen und wie ansprechend ihr Erzählstil auch sein mochte, er würde nie, niemals im Leben begreifen, warum Berichte über aus Lavendelzweigen geflochtene Serviettenringe oder Essensvorschriften für junge Damen bei einer Abendgesellschaft eine interessante Lektüre sein sollten.
Wegen ihres aber bereits erwiesenen Erfolgs überarbeitete er die Artikel so behutsam wie möglich und war auch aufgeschlossen, was den Inhalt betraf, dennoch gab es einige Kritikpunkte, die er mit ihr besprechen musste. Daher beschloss er, ihr die Texte so schnell wie möglich zurückzugeben, damit sie mehr Zeit für die Korrektur hatte. Natürlich hätte er die Artikel auch einem Boten übergeben können, aber er fand, es war viel förderlicher für ihre neue Zusammenarbeit, wenn er seine Meinungen und Vorschläge persönlich
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