Ich muss Sie küssen, Miss Dove
loszuzerren.
„Lassen Sie das", sagte er. „Kommen Sie herunter, ich mache das."
Ehe sie reagieren konnte, legte er ihr die Hände um die Taille, weil er sie ritterlich herunterheben wollte. Doch in der Sekunde, in der er sie berührte, vergaß er seine gute Absicht, und seine Gedanken wurden wenig ritterlich. Mit den Unterarmen streifte er ihre Hüften, und sein Verlangen regte sich erneut. Er hatte recht gehabt. Vielleicht trug sie ein, zwei Unterröcke und auch ganz sicher ein Korsett, aber gewiss keine Polster, die ihre Figur weiblicher erscheinen lassen sollten, als sie eigentlich war. Er ließ die Hände ein Stück weit über ihre Hüften nach unten gleiten. Miss Dove mochte nicht besonders üppig sein, aber was sie an Rundungen hatte, war jedenfalls echt.
Er beugte sich leicht vor und atmete tief den Duft von Talkumpuder und frisch gewaschenem Leinen ein; ein reiner, unschuldiger Duft, den er früher niemals für erotisch gehalten hätte. Bis jetzt ... Noch etwas näher, und er könnte ...
„Mylord?"
Großer Gott, was tat er eigentlich? Harry verdrängte sofort alle lüsternen Gedanken an Miss Doves Kehrseite und rief sich in Erinnerung, dass er ein Gentleman war. Er hob sie von der Leiter, stellte sie auf den Boden und ließ sie schließlich widerstrebend los.
Sie drehte sich zu ihm um, sah ihm dabei aber nicht in die Augen. Angestrengt starrte sie geradeaus auf sein Kinn. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und sie runzelte die Stirn.
Wahrscheinlich, weil sie ihn am liebsten dafür geohrfeigt hätte, dass er sie so unschicklich behandelt hatte, als wäre sie ein loses Frauenzimmer in einem Pub im East End.
Er hätte eine solche Maßregelung verdient gehabt, ohne Zweifel, aber den Grund dafür würde er nicht bereuen. Noch einmal nahm er ihren Anblick in sich auf, von dem in der Sonne rötlich schimmernden Haar bis zu den Spitzen ihrer unvorteilhaften Knöpfstiefeletten und wieder hinauf zu ihrer sommersprossigen Nase. Nein, er bereute nicht das Geringste. Am liebsten hätte er sie gleich wieder so unangemessen berührt. Und das war ausgesprochen dumm.
Seit fünf Jahren hatte er nun eine Sekretärin gehabt, und es war ihm stets gelungen, gelegentlich aufkommende, unziemliche Gedanken an Miss Dove sofort zu verdrängen. Das hatte ihn auch eigentlich keine große Mühe gekostet. Doch jetzt erwies sich das als weitaus schwieriger. Er konnte es nicht erklären, aber zwischen ihnen hatte sich etwas geändert.
Er wusste, er musste diese unerklärlichen Anwandlungen in Bezug auf Miss Dove abschütteln und sich wieder auf das Wesentliche besinnen. Sie war zwar nicht mehr seine Sekretärin, aber sie hatten vor, gemeinsam ein Projekt anzugehen, das sehr vielversprechend war, und er war nicht gewillt, das zu vermasseln. Er atmete tief durch und zeigte auf die Leiter hinter ihr. „Wenn Sie einen Schritt zur Seite gehen, werde ich mich bemühen, Ihr Problem zu lösen."
Endlich sah sie ihm in die Augen. „Wie bitte?"
Um sich nicht noch einmal wiederholen zu müssen, legte er die Hände um ihre Arme und schob sie sanft zur Seite. Dann stieg er auf die Leiter und löste die verhakte Gardine. Als er wieder unten auf dem Boden stand, runzelte sie immer noch die Stirn, und er kam zu dem Schluss, dass etwas Humor jetzt sicher nicht schaden könnte. „Hölle und Verdammnis?", neckte er sie und bückte sich ein wenig, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.
„Verzeihung?"
„Hölle und Verdammnis. Diese Worte habe ich soeben aus ihrem Mund vernommen.”
Die Unmutsfalten auf ihrer Stirn vertieften sich. Sie zupfte an den Manschetten ihrer Ärmel und kam Harry vor wie eine missbilligende Gouvernante. „Seien Sie nicht albern. So etwas habe ich nicht gesagt", erwiderte sie verschnupft.
„Doch. Ich habe es genau gehört." Er schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. „Solche Worte von Londons eifrigster Verfechterin von Anstand und Sitte! Was wohl die Leute darüber denken würden?"
„Schließlich habe ich nicht gewusst, dass Sie hinter mir standen!"
„Sie fluchen also nur, wenn Sie allein sind?"
„Ich fluche überhaupt nicht." Er schmunzelte vielsagend, und sie fügte hastig hinzu: „Wirklich nicht! Normalerweise jedenfalls nicht."
„Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben", versicherte er leichthin, ihr Leugnen schlicht ignorierend. „Ich verrate niemandem, dass Sie fluchen wie ein Seemann."
„Das war doch nur deshalb, weil sich die Gardine nicht bewegen wollte und ich nicht an die
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