Ich muss Sie küssen, Miss Dove
erklärte er. „Zuerst müsste ich dich ja deiner Schuhe entledigen."
„Ach", hauchte sie.
„Da du heute ein Paar schlichte Straßenschuhe anhast und nicht diese hässlichen hochgeknöpften Dinger, die du sonst trägst ..."
„Ich besitze keine hässlichen Schuhe!", fiel sie ihm gekränkt ins Wort.
Da die meisten ihrer Schuhe fürchterlich waren, überging er diesen Unsinn lieber. „Im Moment bin ich voll und ganz mit der wundervollen Aufgabe beschäftigt, deine Strumpfbänder zu lösen, daher brauchen wir über diesen Punkt nicht zu streiten, aber bei der nächsten Gelegenheit werde ich dir hübsche Schuhe kaufen. Am besten gleich ein Dutzend davon, frivole, kokette kleine Schuhe aus Samt und Brokat. So, und nun unterbrich mich bitte nicht mehr. Das ist unhöflich, musst du wissen. Also, nachdem ich dir die Schuhe ausgezogen habe, sind jetzt die Strümpfe ..."
Dieses Mal wurde er nicht von Emma unterbrochen, sondern von Schritten draußen auf der Treppe. Leise aufstöhnend lehnte Harry sich zurück, und Emma rückte so weit wie möglich von ihm ab, ohne allerdings das Sofa ganz zu verlassen. Ein weiteres hoffnungsvolles Zeichen. Er atmete ein paar Mal tief durch, um seine Erregung in den Griff zu bekommen.
Mrs. Morris betrat den Raum mit einem Teetablett, gefolgt von einem Dienstmädchen mit Schürze und Haube, das ebenfalls ein Tablett trug, auf dem sich Essen türmte.
„Stellen Sie es hierhin, Dorcas", wies die Dame des Hauses ihre Bedienstete an und stellte ihr eigenes Tablett auf den Teetisch vor dem Sofa, ehe sie sich in einem der Sessel niederließ. Das Mädchen setzte das Tablett mit Sandwichs und Kuchen vor Harry und Emma ab, knickste und zog sich zurück.
Harry versuchte, höfliche Dankbarkeit für das Mahl vorzutäuschen, obwohl er sich eigentlich vollkommen ausgehungert nach etwas ganz anderem fühlte. „Ich würde sagen, das ist das appetitlichste Teegedeck, das ich seit Jahren gesehen habe. Und so aus dem Nichts gezaubert! Ihre Hausbewohnerinnen können sich glücklich schätzen, Sie zu haben."
Gekünstelt lächelnd schenkte Mrs. Morris den Tee ein. „Nicht alle Hausbewohnerinnen speisen hier, Mylord, aber für die, die ihre Mahlzeiten im Haus einnehmen, bereite ich gern etwas Schmackhaftes und Nahrhaftes zu."
Er warf Emma einen Blick zu, aber sie sah zur Seite und beachtete weder ihn noch Mrs. Morris. Die Röte war aus ihrem Gesicht gewichen, jetzt wirkte ihre Haut wieder hell und durchscheinend. „Isst Miss Dove denn bei Ihnen?", fragte er sein Gegenüber.
„Als Sie noch für Sie gearbeitet hat, nicht allzu oft, Mylord. Damals kam sie häufig erst spät nach Hause. Aber seit sie die Sekretärin der wundervollen Mrs. Bartleby ist und deren Manuskripte abtippt, nimmt sie die meisten Mahlzeiten im Haus ein."
Harry griff nach einem Stück Kuchen vom Tablett, und während er es aß, versuchte er sich irgendeinen Vorwand auszudenken, damit Mrs. Morris wieder das Zimmer verließ.
„Zucker?", fragte Mrs. Morris nach, als sie ihm eine Tasse Tee einschenkte. „Milch?"
„Weder noch, vielen Dank, aber vielleicht ..." Er hielt stirnrunzelnd inne und sah auf das Tablett, als suchte er etwas.
„Ja, Mylord?" Die Dame des Hauses beugte sich eifrig nach vorn. „Wünschen Sie sonst noch etwas?"
Harry lächelte bescheiden. „Nein, nein, ich möchte Ihnen nicht noch mehr Umstände bereiten."
„Aber Sie bereiten mir doch keine Umstände", versicherte sie. „Ganz und gar nicht!"
„Nun ja, ob Sie vielleicht etwas Zitrone hätten?"
„Zitrone?" Sie blickte auf das Tablett, sah dann wieder Harry an und lachte verlegen. „Ach, wie dumm von Hoskins, nicht daran gedacht zu haben! Ich hole Ihnen gleich welche."
„Wie freundlich von Ihnen!" Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. „Und so aufmerksam."
Neben ihm schüttelte Emma leicht den Kopf, aber Mrs. Morris schien das gar nicht zu wahrzunehmen. Aufgeregt wie eine Debütantin wedelte sie mit den Händen, als sie aufstand. „Ich bin sofort wieder da", flötete sie, verschwand und ließ die beiden wieder allein.
Harry rutschte sofort wieder an Emmas Seite. „Wo waren wir stehen geblieben?"
„Sie hat gar keine Zitronen, sonst hätte sie sie gleich zusammen mit dem Tee serviert. Jetzt wird sie Hoskins zu dem Obststand an der Ecke schicken müssen."
„Ich hoffe, sie geht selbst. Dadurch gewinne ich mehr Zeit, dich ganz zu entkleiden." Emmas Protest erstickte er mit einem Kuss und schloss dann genießerisch die Augen. „Ich
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