Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
Vom Netzwerk:
tut.
    Und das machte mich zu einem guten Vater?
    Nun, sagen wir: zu einem gegenwärtigen Vater.
    Er verbiss sich ein Wort.
    Das Mädchen dort etwa. Sehen Sie es? Es rührt ohne Unterlass mit seinem Finger in der Pfütze. Es malt etwas hinein. Sieht das Bild, wie es zerrinnt. Beginnt von vorne. Malt lauter Bilder, die zerrinnen. Es ist ein sinnloses Spiel, und dennoch: ein glückliches. Das Mädchen lacht immerfort. Ich frage mich oft, warum man das nicht mehr kann, sinnlos glücklich sein. Warum man, wenn man groß wird, in engen und niedrigen Räumen sitzt, egal wo man ist, höchstens von einem Raum zum anderen geht, wo man doch als Kind ineinem Raum ohne Wände war. Denn so habe ich es in Erinnerung: Als ich klein war, war mein Obdach meine Gegenwärtigkeit. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft konnten mir irgendetwas anhaben, und wie schön, wenn das heute noch so wäre. Wenn man zum Beispiel arbeiten könnte nicht um des Ergebnisses willen, sondern arbeiten aus Hingabe, ohne Anstrengung.
    Wieder biss er sich die Lippen weiß.
    Ich seufzte, nahm sein Seufzen vorweg.
    Er stimmte mit ein und sagte: Das wäre wirklich sehr schön.

49
    Für mich ist der Zug jedenfalls abgefahren, und ich bin froh darüber, dass er ohne mich losgerollt ist. So weit ich zurückdenken kann, hatte ich niemals den Wunsch, irgendein Ziel zu erreichen. Nicht von mir aus, meine ich. Die guten Noten waren nicht für mich, sondern für die Eltern, die dachten, es würde einmal etwas Solides aus mir werden. Es war ihr Ehrgeiz, nicht meiner. Es war ihre Vorstellung von einem nach vorwärts gerichteten Leben.
    Die Schuluniform habe ich noch. Sie hängt im dunkelsten Eck meines Zimmers, ein Gewand ohne Inhalt. Sie sieht aus wie eine jener Gestalten, denen man in einem Traum begegnet. Du kennst sie nicht und spürst trotzdem eine eigentümliche Verwandtschaft. Bei näherem Hinschauen stellt sich heraus, sie ist dein Schatten.
    Würde ich die Uniform heute anziehen, ich würde sie kaum ausfüllen können. Es wäre ein lächerlicher Anblick, so lächerlich, wie ich mich damals, als ich sie trug, gefühlt habe. Ein als Schüler verkleideter Mensch, der vorgibt, etwas zulernen, in Wirklichkeit aber alles verlernt, was wichtig ist. Auch das ein Grund, warum ich ein Hikikomori bin. Weil ich wieder lernen möchte hinzuschauen. Von meinem Bett aus schaue ich in den Riss hinein, den ich einst aus Wut über mich in die Wand geschlagen habe. Ich schaue so lange hinein, bis ich beinahe ganz in ihn eingegangen bin. Die Zeit hat Falten, er ist eine davon. Ich schaue hinein, um mich an die vielen Momente zu erinnern, in denen ich weggeschaut habe.

50
    Ich war vierzehn. Ein mittelmäßiger Schüler. Meine Noten waren gut, aber nicht zu gut, und dieses Mittelmaß zu halten, davon hing, soviel hatte ich bereits gelernt, mein Überleben ab. Es ging darum, normal zu sein. Unter keinen Umständen irgendwie anders als normal. Denn wer auffällt, zieht den Unwillen derer auf sich, die, von ihrer Normalität gelangweilt, nichts Besseres zu tun haben, als ihn, der anders ist, zu quälen. Und wer will das? Wer übergibt sich freiwillig der Folter? Also fügt man sich und ist dankbar dafür, dass man zu denen gehört, die nicht herausstechen.
    Takeshi aber. Er stach heraus. Kobayashi Takeshi.
    Er war in Amerika aufgewachsen, gerade erst zurückgekommen. Wenn er New York oder Chicago oder San Francisco sagte, sagte er es so, als ob es gleich dort hinten, um die Ecke wäre. Sein Englisch ein Fluss, ich konnte mich nicht satt daran hören. Er sagte Hi. Und Thank You. Und Bye. Aus seinem Mund kamen die Wörter wie ein geschmeidiger Wind. Zu geschmeidig, fanden einige und lauerten ihm auf. Anderntags hatte er einen Zahn weniger. Er lispelte: Ich bin hingefallen. Der Zahn wurde ersetzt, dasLispeln blieb. Und schlimmer noch. Er begann Fehler zu machen. Wenn der Englischlehrer ihn bat, etwas vorzusprechen, versprach er sich. Wenn er ihn bat, etwas vorzulesen, verlas er sich. Nach und nach verlor er die Fähigkeit, die Sprache, mit der er aufgewachsen war, die Sprache, die einmal seine Heimat gewesen war, flüssig über die Lippen zu bringen. Er ging sogar soweit, unseren Akzent zu imitieren. Er sagte San Furanshisuko und es war auf einmal weit, weit fort. Ein unerreichbarer Ort. Es war grausam mitanzuhören, wie er sich dazu zwang. Vor jedem Wort, das er

Weitere Kostenlose Bücher