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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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sagte, hielt er kurz inne und trauerte ihm nach.
    Das Fatale daran: Ich hätte er sein können. Aber ich wurde verschont. Immerhin war ich der Beobachter, und man brauchte so einen wie mich, der zu- und dann wegschaute. Das Mittelmaß hielt ich eben dadurch, dass ich so tat, als ob ich nichts gesehen hätte. Und das Paradoxe daran: Ich war ein Meister darin. Mit vierzehn Jahren hatte ich bereits die Meisterschaft darin erlangt, das Leid eines anderen geflissentlich zu übersehen. Mein Mitgefühl beschränkte sich darauf, der stumme Zeuge zu sein.
    Hm.
    Und wieder Hm.
    Er summte ein Lied. Zog an seiner Zigarette. Summte weiter. Ein Häufchen Asche fiel auf seine Brust, ein leichter Wind wehte es fort. Das Klingeln einer Fahrradglocke. Ich hätte gerne geweint. Von den Sträuchern regneten Blüten, zartgelb.
    Takeshi war nicht der einzige, nicht wahr?
    Nein. Da war noch Yukiko.
    Hm.
    Miyajima Yukiko.
    Der Kloß im Hals verdickte sich. An diesem Montag brachte ich nicht mehr als ihren Namen heraus.

51
    Es sieht nach Regen aus. Er gähnte.
    Ich folgte seiner Bewegung in den trübblassen Himmel hinein.
    Morgen. Was ist morgen? Richtig. Dienstag. Die Woche hat soeben erst begonnen. Wenn es regnet … er kramte ein Kärtchen aus der Tasche. Kritzelte, die Zungenspitze nach vorne geschoben, in großen Lettern: MILES TO GO. Ein Jazzcafé. Wenn es regnet, sagte er, bin ich dort.
    Aber.
    Was, aber?
    Mir war schwindlig geworden. Die Vorstellung, ich müsste an Tischen und Stühlen vorbei, quer durch einen von Menschen schwitzenden Raum, mich hinsetzen, dem Blick des Kellners begegnen, an einem Glas nippen, an dem weiß Gott wer vorher genippt hatte. Noch immer dabei, mich an den Park und unsere Freundschaft zu gewöhnen, überstieg diese Vorstellung das Maß an Möglichkeit, welches ich mir zutraute.
    Es ist bloß. Ich stammelte. Draußen ist mehr Platz zwischen den Menschen.
    Ich verstehe. Er war aufgestanden. Dann also bis zum nächsten Mal Sonnenschein. Es war sechs Uhr. Auf der Rückseite des Kärtchens las ich seinen Namen, Ōhara Tetsu, und seine Adresse. Eine Visitenkarte. Ich bin ein Feigling, dachte ich. Und: Wieder etwas, was ich in meinem Zimmer, in der Schublade, unter dem jahrhundertealten Stein --- ich dachte den Gedanken nicht zu Ende.

52
    Schnell, schnell. Durch den Flur. Wer lächelte da? Das Bild von der nie stattgefundenen San Francisco-Reise hing, als ob ich es nicht umgedreht hätte, sorgsam geradegerückt und abgestaubt, an der Wand. Vaters Hand auf meiner Schulter. Mutters Cheese, es rief aus dem Rahmen heraus. Ich, pickelig, die Kappe schief, Zeige- und Mittelfinger zu einem Victory-Zeichen gespreizt. Ein festgefrorener Augenblick. Ein Sandkorn im Stundenglas. Gleich würde es durch die enge Taille rutschen. Ein paar Sandkörner später und ich würde Vaters Hand abschütteln. Mutters Cheese, es würde zerfallen. Was hat er nur, der Junge. Lass ihn. Eine Phase. Die Wahrheit ist: Sie wollten es lieber nicht wissen. Die Wahrheit ist: Ich wollte es sie lieber nicht wissen lassen. Wir hatten einen Pakt geschlossen: Lieber nichts wissen voneinander. Und dieser Pakt ist das, was Familien über Generationen zusammenhält. Wir waren Maskenträger. Unsere Gesichter darunter nicht länger erkennbar, da wir mit unseren Masken verwachsen waren. Es tat weh, sie herunterzureißen. So weh, dass der Schmerz, einander niemals von Angesicht zu Angesicht begegnen zu können, erträglicher war als der Schmerz, sein wahres Gesicht zu zeigen. Schon dieses Foto-Ich wusste es. Es wusste, es gibt keinen besseren Ort, sich zu verstecken, kein idealeres Schlupfloch als die Familie. Sie ist das leere Quadrat, das bleibt, vergilbte Ränder, wenn man ein Bild von der Wand nimmt. Ich schob es lautlos in den Müll vor der Tür. Schlich zurück über den Flur in mein Zimmer. Erst als die Tür hinter mir zugefallen war, fragte ich mich, ob nicht auch mein Hikikomori-Ich, meine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, eine Maskerade war. Meine Antwort: Ich bin müde.

53
    Zwei Tage vergingen. Trommelnde Regentropfen. Durch den Spalt in den Vorhängen sah ich, der Himmel war zugenäht. Kein Wolkenriss in Sicht. Ich lief auf und ab. Ein Tier im Käfig, das von der Weite der Steppe träumt. Immer wieder streifte ich die Gitterstäbe, kaltes Eisen an Sehnsuchtsfell. Am dritten Tag endlich überlistete ich

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