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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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mich selbst und brach aus. Der Käfig war nur ein Gedanke gewesen.
    Von den vorspringenden Dächern troff das Wasser herab. Ich lief, den Schirm schräg vor mir her, in nassen Schuhen. MILES TO GO. Ich hatte mir vorgenommen, wenigstens daran vorbeizugehen. An flackernden Leuchtbuchstaben vorbei und vielleicht einen flüchtigen Blick zu erhaschen. Vielleicht. Mit diesem Vielleicht im Kopf streunte ich, ein ausgebrochenes Tier, ein Löwe vielleicht oder ein Panther, durch die von Wind und Regen gepeitschten Straßen.
    Dort vorne musste es sein. Das Vielleicht war in meine Brust und von dort aus in sämtliche Teile meines Körpers gedrungen, pumpte mich vorwärts, bis an die Tür und daran vorbei, um die Ecke, um den Häuserblock, und von Neuem: Daran vorbei, um die Ecke, um den Häuserblock. Ich kann nicht sagen, wie oft. In meiner Erinnerung ging ich Meilen. Als ich schließlich die Klinke berührte, kaltes Eisen an Sehnsuchtshand, war ich erschöpft wie von einer langen Reise.
    Im Café stand der Rauch. Leises Gläserklirren. Ein verhaltenes Nichts, nichts. Jemand telefonierte. Das Schmelzen eines Eiswürfels. Es knackte. Das Licht war gedämpft. Hiro! Seine Stimme war ein Faden. Er spulte mich auf. Komm, setz dich. Was willst du trinken? Eine Cola! Er schnippte mit den Fingern. Schön, dass du da bist. Ich versank in der weichen Polsterung eines Ledersessels.

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    Er sah anders aus als im Park. Irgendwie größer. Ohne Himmel über ihm war er ein größerer Mann. Während ich, kleiner und kleiner werdend, nicht wusste, wohin ich schauen sollte. Das beschlagene Glas vor mir, spürte ich, ich war in eine Falle geraten. Was hatte ich eigentlich mit ihm zu tun? Wie war es soweit gekommen, dass ich, den Hals in der Schlinge, mit einem Fremden, inmitten von Fremden, einer Trompete lauschte?
    Einfach fabelhaft! Er wippte im Rhythmus der Musik. Man verliert jedes Raum- und Zeitgefühl. Was ist los? Ist dir schlecht? Du hast ja gar keine Farbe! Was kann ich tun? Brauchst du etwas?
    Ich winkte ab.
    Aber natürlich! Du bist über deinen eigenen Schatten gesprungen! Keine Angst, jetzt bist du drüber. Ein beschwichtigendes: Es geschieht nichts. Wirst sehen. Das ist kein Ort, an dem etwas geschieht, und jeder, der hierherkommt, kommt deshalb, weil es so ist. Man tritt ein in eine Kapsel aus raum- und zeitloser Musik. Warum, denkst du, habe ich dieses Café ausgesucht? Doch nur, weil ich mir sicher war, dass es deinem Zimmer gleichen würde. So ist es gut. Nun hast du wieder ein bisschen mehr Blut in den Wangen. Mit diesen Worten wurde er kleiner, ich größer, bis wir beide wieder unsere ursprüngliche Größe angenommen hatten. Was mich weiter verstörte, war alleine die Einsicht, wieviel Mut in mir war. Es hatte Mut gebraucht, hierherzukommen, es hatte Mut gebraucht, mich ihm anzuvertrauen.

55
    To want a love that can’t be true. Eine kehlige Frauenstimme.
    Kyōkos Lieblingsnummer. Er lachte. Das Lied, das sie auflegt, wenn sie Lust hat zu weinen. Komisch, nicht? Manchmal hat sie Lust, sich flach auf den Boden zu legen und ihn über und über mit ihren Tränen zu benetzen. Sie bezeichnet das als eine Art Reinigung. Es reinige ihre Augen, sagt sie, danach könne sie klarer sehen. Nicht aus Traurigkeit weint sie. Sie weint, um eine klarere Sicht auf die Dinge des Lebens zu erlangen. Die Augen, aus ihrem Mund klingt das wie eine neue oder gerade erst wiedergefundene Weisheit, seien die Fenster, aus denen die Seele schaut. Ob ich das begreifen wolle? Ob ich es aushalten wolle?
    Wir waren einander vermittelt worden. Man hatte mir ein Foto von ihr gezeigt. Dreiundzwanzig Jahre alt, Typistin, liest und singt gerne, zeichnet. Der Vater Bankbeamter, die Mutter Hausfrau, keine Geschwister. So wurde sie mir beschrieben. Braves Kameragesicht, die Hände ordentlich im Schoß gefaltet. Bloß die Frisur! Nicht sonderlich vorteilhaft. Ich willigte ein, sie zu treffen, ohne eine bestimmte Vorstellung von ihr zu haben. Sie gefiel mir, und sie gefiel mir nicht. Im Grunde war es das Drängen der Familie, dem ich nachgab. Ich war fünfundzwanzig und hatte einen gut bezahlten Job. Was fehlte, waren Frau und Kind, ein gemütliches Heim. Nach dem Vorbild meiner Eltern zu beurteilen, war das weder etwas Wünschenswertes noch war es nicht wünschenswert. Es war einfach so, dass es von mir erwartet wurde und dass ich es selbst auch erwartete,

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