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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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ist Kumamoto. Im Schatten des Baumes, den Rock über die Knie ziehend: Yukiko. Der, der beim Brunnen sitzt und die Tauben füttert. Er könnte der Lehrer sein. Alle hier. Unter diesem Himmel. Man muss nur Ausschau halten.
    Wenn das so ist, wollte ich sagen, wäre ich gerne Ihr Sohn. Ich sagte es aber nicht. Stattdessen bat ich ihn um einen Gefallen. Da wäre etwas, begann ich.
    Was ist es?
    Da wäre etwas, was Sie für mich tun könnten.
    Nun sag schon.
    Bitte sagen Sie Ihrer Frau, heute Abend noch, die Wahrheit darüber, dass Sie Ihre Arbeit verloren haben. Sie sind es ihr schuldig. Nach allem, was passiert, nach allem, was nicht passiert ist.
    Ich verspreche dir, ich werde es tun. Und du, du versprichst mir, dass du dir, heute Abend noch, die Haare kurz schneidest. Lang genug habe ich es dir nicht gesagt, aber du siehst furchterregend aus mit diesen Zotteln.
    Ich lachte mit ihm: Gut, abgemacht.
    Am Montag werden wir einander nicht wiedererkennen.
    Sie werden kommen?
    Ja, natürlich.
    Und dann?
    Ein Neuanfang.

94
    Heute Abend noch. Wir hatten eine Abmachung. Ich hielt mich daran. Die Schere in der Rechten, schnitt ich Strähne für Strähne, bis mein Kopf leicht und kühl geworden war. Einmal abgeschnitten, waren die Haare, überall auf dem Boden, nicht länger die meinen und genau so, dachte ich, müsste es auch ihm ergehen. Einmal ausgesprochen, würde die Last der Wahrheit von ihm abfallen und er würde hinterher nicht mehr sagen können, warum er sie überhaupt so lang hinausgeschoben hatte. Er würde, wie ich, vor dem Spiegel stehen und sich zugleich fremd und vertraut finden. Er würde an mich denken und sich sagen: Die Wahrheit gestehen ist wie Haare abschneiden.
    Noch aber überwog das Vertraute. Die Frage: Wie sollte es weitergehen? Unsere Freundschaft war der größere Raum, in den ich eingetreten war. Seine Wände hatte ich mit den Bildern derer tapeziert, von denen wir einander erzählt hatten, und der Gedanke, ich müsste ihn womöglich verlassen, durch eine Tür, von der ich nicht wusste, wohin sie führte, mich dem Unbekannten aussetzen, der Gedanke kreiste mich gefährlich ein. Beinahe hoffte ich, er würde sein Geständnis weiter hinausschieben, montags auftauchen und mir wortlos zu verstehen geben, dass er versagt hätte. Es war eine schäbige Hoffnung. Ich drängte sie zurück. Das ganze Wochenende verbrachte ich damit, sie in die Ecke zu stellen. Am Sonntagabend war sie nur mehr der schwache Wunsch, ich hätte nocheinmal die Chance gehabt, ihm zu sagen, ich wäre gerne sein Sohn.

95
    Neun Uhr. Das musste er sein. Kurzärmliges Hemd, ein Hawaii-Muster. Er kam auf mich zu, sein Gesicht seltsam verjüngt. Nein, eine Täuschung, das war er nicht. Der dort hinten aber. Die Schultern vornüber geneigt. Schiefer Gang, als ob er jemandem ausweichen wollte. Ja, das war er. Dann: Nein. Und wieder: Ja. Dann: Doch nicht. Und: Wieder nicht. Wie konnte das sein? Bestimmt war ihm etwas dazwischengekommen. Eine Verspätung. Bestimmt. Gleich wäre er da. Die Gestalt bei den Büschen. War das ein Mann? Oder eine Frau? Oder ein Kind? Was, wenn er? Ich wartete. Spähendes Auge. Bestimmt war es ein Missverständnis. So viele Leute, die kamen und gingen. Sie waren mir vorher nicht aufgefallen. Ob ihm etwas zugestoßen war? Mit jeder Verwechslung erfand ich einen Grund für seine Abwesenheit. Einmal waren es Kopfschmerzen, dann war es der Tod eines entfernten Verwandten, eine Sommergrippe, jemand brauchte dringend seine Hilfe. Die Krawatte zwischen Zeige- und Mittelfinger wartete ich, schon gar nicht mehr im Klaren darüber, auf wen.
    Mittagszeit. Im Park wurden Bentōs ausgepackt. Man saß in Grüppchen verstreut und aß, trank, plauderte. Ich dachte an Kyōko und fragte mich, ob sie wohl auch heute wieder aus Gewohnheit um sechs Uhr aufgestanden war. Oder ob sie liegen geblieben, immer noch im Bett, ihn gebeten hatte, nicht fortzugehen. Ob sie von mir wusste. Und ob sie, wenn ihm etwas zugestoßen wäre, hierher kommen würde, um mir Nachricht zu geben. Die Frau da vorne, das könntesie sein. Ich hatte den Eindruck, sie suchte nach jemandem. Ich bin hier, hätte ich fast gerufen, aber da sah ich, sie war bereits Arm in Arm fündig geworden. Auf einmal schämte ich mich, mir solche Wichtigkeit zugeschrieben zu haben. Ich schlug den Kragen hoch. Wer war ich, dass ich glaubte, Kyōko

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