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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Anschein gab, sie vergessen zu haben. Sie war der schwarze Punkt auf einer weißen Fläche. Wenn man ihn lange genug übersieht, hört er auf zu existieren. Die Wirklichkeit ist eine Variable, ein bloßer Platzhalter für eine veränderliche Größe. Man biegt sie sich gerade. Kein Verbrechen. Ein Verbrechen ist es erst dann, wenn man die geradegebogene Wirklichkeit für wirklicher als die Wirklichkeit hält und sie wider sein besseres Wissen als solche verteidigt.
    Wenn ich nur ein einziges Mal geweint hätte. Ich sah mirbeim Nichtweinen zu. Kiefer anspannen. Schlucken. Etwas kaputtmachen. Schnell. Den Spiegel da, zerschlagen. Und noch einmal. Mit der Faust hinein. Ein wohltuender Schmerz, der den eigentlichen übertüncht. Den, der nicht da ist. Den man sich zwingt, nicht zu spüren. Die Scherben zusammenkehren. Und fort damit. Zu wissen, besseres Wissen, dass das Nichtweinen ein Weinen ist. Und dennoch weint man nicht. Spannt den Kiefer an. Schluckt.
    Es gab andere wie mich. Leicht sie zu erkennen. Schwierig mich in ihnen wiederzuerkennen. Ich erkannte sie an ihrem fliehenden Gang. Rote Flecken am Hals, wenn man sie ansprach. Übertriebene Lustigkeit. Verkrampfte Zurschaustellung einer Normalität, von der sie sich eben dadurch unterschieden. Ich fand sie abstoßend. Alle. In ihrer Durchsichtigkeit fand ich, sie waren Dilettanten, die mich und mein Ringen um Glaubhaftigkeit bedrohten. Ein Fehler ihrerseits, und es würde noch größere Anstrengung kosten, mein falsches Gesicht zu wahren. Das, was uns miteinander verband, war gleichzeitig das, was uns voneinander trennte. Ein jeder von uns in seiner Schale. Bei der geringsten Erschütterung zogen wir unsere Köpfe ein.

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    Seltsam. Aber die Erkenntnis, dass auch Vater etwas verbarg, diese Erkenntnis, dass auch er, von Zittern erfüllt, es unter seine Haut gedrängt hatte, tröstete mich. Wenigstens eine Zeitlang. Es war einfach so, wie er gesagt hatte: Man musste ein Ziel haben. Man musste sein Bestes geben. Man musste es erreichen. Irgendwann glücklich sein. Es bedurfte dazu nur eines kleinen Sprunges. Hinüber auf die sichere Seite, hinüber zu denen, die nicht zu viel nachdenken, nicht darüber, wie weh es tut, nicht nur den anderen, sondern mit ihm sich selbst verraten zu haben. Ich wollte dorthin, nahm Anlauf, war noch im Anlaufen. Wäre gesprungen, wenn mir Kumamoto, ein Staffelläufer, nicht im letzten Moment den Staffelstab der Wahrhaftigkeit überreicht hätte. Gib es zu. War das sein Ruf gewesen? Gib endlich zu, dass du an derselben Krankheit leidest. Mein Ja war die Tür, die sich hinter mir schloss. Vaters Verzweiflung. Sie kam zu spät. Als er brüllend ins Zimmer gestürmt war und seine Hand gegen mich erhoben hatte, war ich schon längst nicht mehr antastbar gewesen. Er sah es, ich bin mir sicher. In Wahrheit war er es, der vor mir zurückgewichen war. Er hatte mit Absicht danebengeschlagen.
    Bleicher Abendhimmel.
    Der Park begann sich zu leeren. Ringsherum gingen die Lichter an. Eine Minute noch. Vielleicht käme er jetzt. Gerade dann, wenn ich aufstünde. Happy! Bleib hier! Eine gespannte Leine. Warme Hundeschnauze an meinem Hals. Happy! Lass das! Happy! Komm her! Happy! Sei brav! Der Shiba* gehorchte nicht. Immer wieder sprang er an mir hoch und leckte mir übers Gesicht. Raue Zunge. Er winselte. Ich schob ihn zur Seite und stand auf. Happy! Aus! Ich hörte ihn bellen, noch lange, nachdem ich unsere Bank verlassen hatte.

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    Auf diese Art verstrich eine Woche. Neun Uhr, ich war da. Ich sah ihn auftauchen und musste einsehen: Das war er nicht. Ich verwechselte ihn mit einem Oberschüler, einer Career Woman* , die rauchte, einem tanzenden Schatten. Ich erfand Bauchschmerzen, den Besuch, unerwartet, eines alten Freundes, einen Ausflug in die Berge, spontaner Einfall. Als mir die Gründe ausgingen, begann die Regenzeit.
    MILES TO GO.
    In der Ecke stand mein liegengelassener Schirm. Er bewies mir nichts. Keine Stimme spulte mich auf. Tatsächlich begann ich daran zu zweifeln, ob wir einander begegnet waren. Ob ich ihn nicht, war das möglich, erfunden hatte wie die vielen Gründe für seine Abwesenheit. Allein die Krawatte war ein sicheres Pfand. Ich berührte sie und wusste, es gibt ihn. Ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Die Haare wuchsen wieder. Im Café war die Zeit hingegen stehengeblieben. Dieselbe Musik. To want a love that can’t be true.

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