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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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müsste nach mir suchen? Wer war ich, dass ich glaubte, sie müsste sich mir gegenüber verpflichtet fühlen? Ich schaute ihr nach, wie sie hinter einem der Bäume verschwand. Der Salaryman an ihrer Seite hatte im Gehen seine Hand, sehr sachte, in ihren Nacken gelegt.

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    Und da war es wieder. Das Gefühl, ein Niemand und weniger noch als niemand, ein Nichts zu sein. Es war ein ohnmächtiges Gefühl. Es legte mich in Fesseln und sagte: Nun lauf! Ich versuchte es, warf mich hin und her, kam nicht weiter als einen Millimeter. Ich zitterte von der Anstrengung, die es gekostet hatte, so weit zu kommen. Nach Yukikos Tod war es dieses Zittern gewesen, ein beständiges Jucken knapp unter der Haut, welches mich von innen her und nach außen hin daran erinnert hatte, dass ich trotz all der Bestrebungen, normal zu sein, trotz all der Kämpfe, die ich darum ausfocht, gerade deshalb irgendwie anders war.
    Ich verbarg es so gut ich konnte. Man sollte mir nicht ansehen, dass ich es verbarg. Und wenn es einmal nicht zu verbergen war, dann war ich der lauteste, der darüber lachte, darauf hinwies und sagte: Wie komisch! Meine Hände hatte ich meistens eingesteckt. Immer wenn man mich beim Namen rief, begannen sie zu zittern. War ich ertappt worden? War man dahintergekommen? Ich, der tat, als ob ich nichts gesehen hätte, war penibelst darauf bedacht, nicht gesehen zuwerden. Und wer ist unsichtbarer als der, der sich anpasst? Die Hände in den Hosentaschen gab ich vor, jemand zu sein, eine Person mit einem Gesicht ohne Geheimnis. Das war der Druck, den ich gemeint hatte. Nicht die Klassenarbeiten, nicht die Noten. Der Druck bestand darin, meine Gesichtslosigkeit überspielen zu müssen. Das Ringen um Glaubhaftigkeit. Der erste Raum, in den ich mich zurückgezogen hatte, war nicht mein Zimmer im Haus der Eltern, sondern schon lange davor meine blanke Stirn gewesen. Wenn die Rede auf Yukiko kam, die Lehrer erwähnten ihre Geschichte, ab und an, um der darin enthaltenen Mahnung willen, dann vergrub ich meine Hände noch tiefer, ging, lässig pfeifend, auf die Toilette, wo ich mich einsperrte und minutenlang wartete, bis das Zittern ein wenig nachgelassen hatte. Taguchi, klopfte es, was machst du da drinnen? Ich: Du weißt schon. Ach so, ein anerkennendes Glucksen. Mann, du brauchst aber lang. Ich kam, glattes Grinsen, heraus.
    Zu Hause vermied ich es, mit den Eltern an einem Tisch, mit zitterndem Löffel und zitternder Gabel unter ihren Augen zu essen. Dabei fiel es ihnen höchstwahrscheinlich gar nicht auf, da ich mir gewisse Taktiken angeeignet hatte, das Zittern unter die Haut zu drängen und es so lange darunter verborgen zu halten, bis ich es, wieder alleine, eine Erleichterung, zurück an die Oberfläche treten ließ. Immer öfter aß ich in meinem Zimmer. Weder Vater noch Mutter fragten nach Gründen. Man weiß ja, wie das ist, sagten sie, in diesem Alter hat man seine Schwierigkeiten. Hätten sie mich gefragt, ich hätte ihnen keine bessere Antwort geben können. Ihr Verständnis meinem schwierigen Alter gegenüber war die beste Entschuldigung, die ich vorweisen konnte: Bitte entschuldigt mich, aber ich habe keine Lust, mit euch zusammenzusitzen. Bitte entschuldigt mich, aber mir liegt nichts daran, euch zu erklären, warum. Zitternder Blick. Von allen Menschen war ich es, von dem ich am wenigstengesehen werden wollte.

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    Ich sah mich aber.
    Ich stand daneben und sah mich.
    Wackelnde Kamera.
    Ich sah das Unmögliche, den Versuch, mich zu überlisten. Es war normal gewesen, weggeschaut zu haben, sagte ich mir. Das Normalste der Welt, Yukikos ersticktes Bitte hilf mir! überhört zu haben. Weitergegangen zu sein, in dem Moment, als ihr Blick sich in meinen gelegt, sich daran festgehalten, plötzlich erkannt hatte: Der hilft mir nicht. Von dem ist keine Hilfe zu erwarten. Diese Enttäuschung, als er aus meinem herausfiel, da ich weitergegangen war, zwei Ecken weiter keuchend stehen blieb, ein weiches Klatschen vernahm, wie wenn etwas sehr Feines von etwas sehr Grobem zerdrückt, zerrissen, zermalmt worden wäre. Und wer täte das nicht? Dann noch eiliger davonzulaufen? Wer hätte nicht das Gleiche getan? So redete ich auf mich ein und sah, wie ich mir glaubte, mir unbedingt glauben wollte, wie der Glaube mich beruhigte, die Ruhe eine vorgetäuschte war. Vergiss Yukiko. Du hast sie schon einmal vergessen. Ich sah, wie ich mir den

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