Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
Vom Netzwerk:
und innig, die Weichheit seiner Wangen zu fühlen. Von uns beiden hatte ich den schlimmeren Herzfehler.
    Kyōko machte mir keine Vorwürfe. Sie wusste um meine unausgesprochenen Gefühle und hatte wohl gleichzeitigAngst davor, dass ich sie aussprechen könnte. All die Leute, die gekommen waren, um uns ihre Glückwünsche zu übermitteln. Sie nannte sie, scherzhaft, schmerzhaft, Kondolenzbesucher. Sie kamen, um ihr Bedauern auszudrücken. Wie schade, dass es nicht gesund ist. So ein Pech aber auch. Ob man es nicht hätte verhüten können. Kyōko hatte wohl Angst, dasselbe hilflose Bedauern aus meinem Mund zu hören. Als ob er tot wäre. Empörtes Aufschnaufen. Statt über mich, empörte sie sich über die Leute.

88
    Einmal, Kyōkos Idee, waren wir zu Gast im Haus der Sonne. Es war ein Haus, in dem sich Eltern wie wir mit Kindern wie Tsuyoshi zum gemeinsamen Austausch trafen. Dazuzugehören. Plötzlich war das ein beklemmender Gedanke. Teil einer Gruppe zu sein. Ich legte mir ein Lächeln zurecht, setzte es auf, trug es, ein Schild, auf dem stand: Bitte nicht berühren. Ich verschanzte mich dahinter. In der Vorstellungsrunde sagte ich lächelnd: Ich freue mich, hier sein zu dürfen. Fünf Kinder, zählte ich. Neun Väter und Mütter. Einer fehlte. Ich. Man hieß mich trotzdem willkommen: Die Freude ist ganz unsererseits.
    Tsuyoshi war der jüngste. Fünf Monate alt. Die anderen Kinder waren drei, sechs und zehn, eines sechzehn. Ich war erstaunt. Der Sechzehnjährige, ich glaube, er hieß Yōji, war gerade dabei, ein Bild zu malen. Er saß aufgeregt auf und ab hüpfend, eine rote Ölkreide in seiner Hand, schielte verstohlen zu uns herüber, beugte sich wieder über den Bogen Papier. Während neben ihm die zehnjährige Miki voller Eifer erklärte, sie wolle, wenn sie groß sei, Häuser bauen. Ihr Vater, sie stolz um die Schultern fassend: Architektinalso. Meine Tochter wird Architektin werden. Was für ein Wahnsinniger, dachte ich. Mein Lächeln, saß noch. Der Dreijährige krabbelte zwischen meinen Füßen hindurch. Tachan, komm! Seine Mutter lockte ihn mit einer Plastikente. Man redete durcheinander, stolperte über herumliegendes Spielzeug. Eine Puppe lag mit verdrehten Gliedern auf einem Teddy ohne Augen. Die sechsjährige Akiko schlug wild auf sie ein.
    Ojisan* .
    Ich zuckte zusammen. Eine rote Hand, rot wie das Feuer, hatte mich gestupst.
    Es war Yōji. Er hatte Mühe zu sprechen. Jedes Wort presste er heraus, als ob er es eben erst gelernt hätte: Ich habe ein Bild gemalt. Hier. Bitte. Das sind Sie. Er hielt mir den Bogen Papier unter die Nase.
    Ich sah ein Gesicht. Kantig. Der Mund war ein Strich, seine Enden nach unten gezogen. Die Augen zwei Löcher, aus ihnen kamen zwei Blitze. Keine Ohren, sondern Hörner. Das Gesicht eines Dämons. Yōjis Vater entschuldigte sich: Er hat Sie nicht sehr gut getroffen. Und zu ihm: Das kannst du besser. Du siehst doch, Ojisan lächelt. Yōji seufzte und ging an seinen Platz zurück.

89
    Auch er seufzte. Zu denken, dass dieser Junge in meine Seele geschaut hat. Und nicht nur er. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Diese Hitze. Das Gras dörrt aus. Von allen Jahreszeiten mag ich den Sommer am wenigsten. Mattes Hüsteln. Wir waren im Park. Mir fiel auf, er hatte seine Aktentasche nicht wie gewöhnlich zwischen uns gestellt. Mir fiel auf, es störte mich nicht. UnsereBank war eine Wartebank. Zusammen warteten wir auf etwas, was nicht geschehen würde.
    Tsuyoshi!
    Ein Schrei.
    Er hallt wider zwischen den Wänden unseres stillen Hauses.
    Ich stürze ins Kinderzimmer. Da ist Kyōko. Schreiend. Über seinem Bett. Ihn hochnehmend. Sein Kopf fällt schwer zur Seite. Er atmet nicht. Er ist kalt. Komm schnell. Beeil dich. Ins Krankenhaus. Ein leicht säuerlicher Geruch. Ich denke an den Lehrer. Den Motor angelassen. Das Auto, ein fahrender Schrei. Im Rückspiegel sehe ich Kyōkos vom Schreien auseinandergefallenes Gesicht. Tsuyoshi ist weiter unten auf ihrem Schoß. Ich sehe ihn nicht. Tetsu, bitte. Fahr schneller. Um Himmels willen. Fahr so schnell, wie du nur kannst. Und dieser Augenblick, jäh, als sie zu schreien aufhört. Stattdessen flüstert: Er atmet nicht. Er ist tot. Blaues Ampellicht auf Kyōkos Gesicht. Fahr langsam. Noch langsamer. Du sollst langsam fahren. Ich will ihn, so lang es

Weitere Kostenlose Bücher