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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Brillengläsern.
    Es gibt keinen Zweifel. Wir haben festgestellt. Ihr Sohn ist behindert. Ein Herzfehler, obendrein. Nein, das lässt sich nicht richten. Das ist nichts, was sich richten lässt. Sie müssen verstehen. So etwas bleibt. Wird bleiben. Man kann es nicht wegoperieren. Verstehen Sie mich? Ōhara-san? Es ist wichtig, dass Sie das verstehen. Ihr Sohn wird niemals wie andere sein.
    Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Als er mich fragte, ob ich nun bereit sei, ihn zu sehen, schüttelte ich den Kopf und ging hinaus, ohne mich zu verabschieden. Ich glaube, ich hatte Angst, er könnte mir ähnlich sein.

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    Kyōko hingegen!
    Sie ging auf. Ich beobachtete, wie sie, aufgehend, von Tag zu Tag schöner wurde. Dieser gewisse Glanz in den Augen einer Mutter, wenn sie sich über das Bett ihres Kindes beugt, ganz hingegeben jeder seiner Bewegungen, auch wenn sie so klein sein mögen, dass man sie fast nicht bemerkt. Schau doch, er greift schon, würde sie dann sagen.Schau doch, er lächelt. Schau doch, er hat deine Augen. Findest du nicht? Papas Augen, sagte sie zu ihm, da ich keine Antwort gab: Du hast Papas Augen. Ich, im Flur, fühlte Neid. Ich beneidete sie um die Fähigkeit, dieses stille, stille Kind, gegen alle Vernunft, wie ich meinte, gegen allen gesunden Menschenverstand als unseres zu betrachten, es so hinzunehmen, wie es war, und mit keinem Wort seine Unzulänglichkeit zu erwähnen. Mehr noch: Sich keiner Unzulänglichkeit an ihm bewusst zu sein. Dabei musste sie doch sehen, dass es ein Fehler war. Gewiss, dachte ich, verstellt sie sich bloß. Ja, gewiss, sie macht sich was vor. Den Kollegen in der Firma hatte ich erzählt, unser Sohn sei kerngesund auf die Welt gekommen. Zehn Finger, zehn Zehen. Man hatte mir gratuliert, war in Beifall ausgebrochen. Ich erinnere mich an das Geräusch von Händen, die nicht aufhören wollten zu klatschen. Und ich erinnere mich daran, dass ich für die Dauer von dreißig Sekunden so etwas wie Glück empfand.
    Die Eltern kamen zu Besuch. Kyōkos. Meine. Ein pflichtschuldiger Blick ins Kinderzimmer, danach unterhielt man sich bei Tee und Keksen über die gestiegenen Preise, den Taifun im Süden und die Affäre eines Schauspielers mit einer Sängerin. Es war ein angestrengtes Gespräch, immer wieder brach es ab, nur am Laufen gehalten durch die Anstrengung, es möglichst nicht auf Tsuyoshi zu lenken. Ich ging in den Garten, um eine Zigarette zu rauchen. Drückende Schwüle, bald würde es ein Gewitter geben. Meine Mutter war mir gefolgt. Ich hörte sie hinter mir in ein Taschentuch schniefen. Armer Sohn, sagte sie. Sie meinte mich. Man weiß nicht, wie solche Dinge zustande kommen. Matsumotos. Vielleicht. Okada-san hat uns etwas verheimlicht. Wir hätten gründlicher nachforschen sollen. An uns liegt es jedenfalls nicht. Sie zischelte. Ich ließ es zu. Hörte Trost in ihrem Zischeln: Es ist Kyōko. Zweifellos sie. Sounmanierlich, wie sie damals war, an ihrer Unmanierlichkeit hätte man es erkennen können. Genug davon. Nicht laut, ich sagte es leise: Es ist genug.

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    Hältst du ihn? Kyōko drückte ihn mir auf den Arm. Ich muss nachschauen, ob das Wasser. Schon war sie in die Küche. Ich alleine mit Tsuyoshi, das erste und letzte Mal. Sein Gewicht überraschte mich. Ebenso die Wärme seines Körpers. In meiner Vorstellung war er leicht und kühl gewesen, wie etwas, was man nicht fassen kann: Eine Brise. Kaum da, schon wieder fort. Er starrte mich an, seine Fäuste nach oben gestreckt. Ich hielt seinen Kopf. Seidiges Haar. Plattes Näschen. Offener Mund. Du. Schrei mal. Ein bisschen. Kannst du nicht einmal für mich schreien? Babys tun das. Sie schreien den ganzen Tag. Es ist zum Verrücktwerden, ihr Geschrei. Aber du. Warum schreist du nicht? Ich kniff ihm in die Wangen. Zuerst fest, dann fester, so fest, dass mir die Finger schmerzten. Sein Schrei war ein Röcheln, erschrocken legte ich ihn ab. So röchelt kein Baby, nur ein sehr alter Mensch. Schnell weg. Ich brauche Luft. Als Kyōko wiederkam, war ich bereits draußen unter dem Ahornbaum und zündete mir eine Zigarette an. Heute denke ich: Wäre ich sitzen geblieben, noch einen Moment, und hätte sein Lächeln abgewartet. Ich würde entdeckt haben, dass seine Behinderung im Vergleich zu der meinen eine geringfügige war. Das, was in mir hart geworden war, hinderte mich daran, tief

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