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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Krawatte nicht losgelassen, sie fest umschlossen hatte. Wie sie sie liebkoste. Mit ihren Fingern. Sie sich einverleibte. Ganz und gar mit ihr verschmelzen wollte. Verschmolz.

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    Was wiegt schwerer, fragte Kyōko nach einer Weile. Die Tatsache, dass er mir seine Situation verschwiegen hat, oder die Tatsache, dass ich ihm darin beigestanden habe, sie zu verschweigen? Du hast richtig gehört. Ich habe ihm, wohlwissend, dass er seine Arbeit verloren hat und dass er es mir aus Scham nicht sagen konnte, darin beigestanden, in dieser seiner Scham zu verbleiben. Ich wollte ihm Zeit geben. Mit ihm warten, bis. Er brauchte das so: Jemanden, der mit ihm wartet. Jemanden, der geduldig ist. Manchmal ging ich ihm einen Schritt weit entgegen. Ich sprach vom Ausbrechen.Vom Zurücklehnen. Vom Nichtstun. Oder auch: Von seiner Firma. Von seinem Vorgesetzten. Von seinen Kollegen. All dies, um ihm den Weg zu ebnen, ihn für ihn auszuleuchten, ihm zu verstehen zu geben: Du musst das nicht. Dich so abmühen. Er aber entfernte sich. Das Spiel, zuerst war es ein Spiel, entglitt mir. Grausam. Wenn es einem entgleitet. Eben noch steht es in deiner Macht, den einen Akt zu eröffnen, in dem die eine Wende passiert, und dann passiert gar nichts. Du bist Teil des Publikums geworden. Der andere ist auf der Bühne, ein Ein-Mann-Stück, die Scheinwerfer im Gesicht, ein einsames. Während du, in der hintersten Reihe, im Dunkeln, unfähig einzugreifen, dabei zusiehst, wie sich die Handlung verselbständigt. Der Vorhang fällt. Ich hätte von Vornherein nicht mitspielen dürfen. Auch wenn ich es ihm zuliebe tat, ich hätte wissen müssen, dass solches Spiel kein gutes Ende nimmt.
    Am Anfang war ich natürlich ahnungslos. Er verließ pünktlich um halb acht das Haus, kam abends wieder, müde, schlief vor dem Fernseher ein. Nicht unüblich. Ich deckte ihn zu. Und im Zudecken war es, dass ich ihn im Traum meinen Namen flüstern hörte. Kyōko. Plötzlich wurde er wach. Ich sage: Plötzlich. Wie wenn ein Toter, schon aufgebahrt, mit einem Ruck sich erhebt, die Arme, voller Leben, um mich geschlungen, mich so hält, in seiner Umarmung, fast erdrückt, sein Atem dicht an meinem Ohr: Vergib mir. Bitte. Vergib mir. Ich japste nach Luft. Da ließ er mich los. Seine Arme, wieder schlaff, sank er zurück und war noch tiefer als zuvor, mit halb geöffnetem Mund, eingeschlafen. Ich Dummkopf ich, dachte ich und rief tags darauf in der Firma an. Als ich den Hörer auflegte, wurde mir die ganze Tragweite unserer Entscheidungen bewusst: Er wollte sein Versprechen vom Alltag einlösen, ich mein Versprechen, um unseres Alltags willen bei ihm zu bleiben. In diesem winzigen Augenblick, als ich den Hörer zurück aufdie Gabel legte, wurde mir bewusst, welche Schönheit darin lag, welch ebenmäßige Schönheit, in unserem Versuch, den Entscheidungen, die wir getroffen hatten, die Treue halten zu wollen.

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    In gewisser Weise hat er bis zuletzt hart gearbeitet. Wenn du verstehst. Er mochte seine Arbeit nicht besonders. Was er an ihr mochte, war einzig die Routine und die Befriedigung, die er daraus gewann, ihr zu folgen. Das Reibungslose daran. Selbst wenn sonst nichts funktionierte. Dieses Reibungslose aufrechterhalten zu wollen, der Wirklichkeit zum Trotz, war die härteste Arbeit, die er je geleistet hat.
    Es wird mir erst klar. Kyōko legte sich die Krawatte um den Hals. Aber ich tue es ihm gleich. Siehst du den Aschenbecher da? Die vielen Stummel? Ich bringe es nicht übers Herz, sie fortzuwerfen. Die aufgeschlagene Zeitung dort. Er las darin, in seiner Blase, blätterte vor und zurück. Ich schaffe es nicht, sie wegzuräumen. Die Packung Senbei* auf dem Beistelltisch. Längst nicht mehr knusprig. Die Flasche Bier, die er dazu trank. Abgestanden. Im Waschbecken, im Badezimmer, fand ich ein angegrautes Haar von ihm. Ich bewahre es auf. Seine Zahnbürste. Die Borsten verbogen. Das Handtuch. Der Rasierapparat. Alles an seinem Platz. Man übergab mir, was er bei sich getragen hatte. Die Armbanduhr. Die Schuhe. Die Aktentasche. Darin eine Notiz: Man lebt nur einmal, heißt es, warum stirbt man so oft. Bloß die Krawatte fehlte. Ich habe nach ihr gesucht. Man nennt das Trauer. Und ich glaube, Trauer ist auch der Grund, warum er sich derart bemüht hat, ein Mensch zu sein, der funktioniert. Indem er alles so beibehielt, wie es immer gewesenwar, trauerte er um das, was er

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