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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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versäumt hatte: Unseren Sohn, seine Liebe zu ihm. Das, was man nicht tut, das, was man unterlässt, ist oft von schmerzlicherer Konsequenz als das, was man tut. Wenn ich ihn wachgerüttelt hätte. Wenn ich ihm gleich nach dem Anruf in der Firma gesagt hätte: Ich bin nicht bei dir um unseres Alltags, sondern um deinetwillen. Und weiter noch. Wenn du heute nicht den Entschluss gefasst hättest, hierher zu kommen, wenn du deinen Entschluss nicht in die Tat umgesetzt hättest, ich würde morgen noch nach seiner Krawatte suchen, morgen noch denken: Ich habe ihn nicht gekannt. Ich danke dir dafür. Kyōko nahm meine Hand und drückte sie. Ich danke dir dafür, dass du ihm begegnet bist.

106
    Bevor du gehst. Sie zeigte auf die Tür gegenüber, auf der anderen Seite des Flurs. Dort drinnen im Kinderzimmer steht der Butsudan* . Es wäre schön, wenn du. Drei Atemzüge Pause. Noch einmal mit ihm zusammensitzen würdest.
    Das Übertreten der Schwelle.
    Ich schloss die Tür hinter mir ab.
    Ein kleines Zimmer, nicht größer als meines, höchstens zehn Quadratmeter. Keine Möbel. Nur der Altar. Davor ein Sitzkissen. Ich setzte mich hin. Frische Blumen rechts und links. Seine Bentō-Box, in blaues Tuch eingeschlagen. Ein Foto. Tsuyoshi. Ein zweites. Er. Ich stellte drei Räucherstäbchen auf, schlug die Klangschale an, legte die Hände zusammen. Als meine Handflächen einander berührten, war es, als ob keine Wände um mich wären. Etwas gab in mir nach. Ich brach in Tränen aus. So lange hatte ich nicht geweint, dass mir mein Weinen wie das Weinen eines Kindesoder das eines sehr alten Menschen vorkam. Ich weinte ohne Rückhalt und Vorsicht. Weinte um ihn und all die anderen, die gegangen waren. Um Kyōko. Die Eltern. Mich selbst. Weinte am meisten um uns, die geblieben waren.
    Hören Sie mich? Schluchzend. Sie hatten Recht. Mein Sterbegedicht ist schon lange fertig. Was es noch zu schreiben gilt aber, ist das Gedicht, welches, niemals fertig, ein endloses Anreiben der Tusche, ein endloses Eintauchen des Pinsels, ein endloses Gleiten über weißes Papier, das Gedicht meines Lebens ist. Ich will versuchen, es niederzuschreiben. Gleich, nein jetzt will ich es versuchen. Die erste Zeile: Ich nannte ihn Krawatte. Ich will schreiben: Er hat mich gelehrt, aus fühlenden Augen zu schauen.

107
    Man sagt, ein Lehrer ist unsterblich. Auch wenn er seinen Körper verlässt, lebt das, was er gelehrt hat, im Herzen seiner Schüler weiter. Ich musste daran denken, als ich die Straße hinunter, wieder nach Hause fuhr. Mit kühlem Blick sah ich die Leute, wie sie, Kopf auf der Brust, hin und her geschaukelt wurden, und mit einem Mal durchdrang mein Blick eine noch tiefere Schicht, ging noch weiter als bis zu den Knochen und Organen, noch weiter hinein, mitten ins Unfassbare, welches mir nicht länger Angst bereitete, sondern mir ein Staunen abrang. Es war, als ob die Tränen, die ich geweint hatte, einen trüben Schleier von meinen Augen genommen hatten, und mein Ich kann nicht mehr! war dahinter zu einer Frage geworden: Was kann ich tun?
    Taguchi!
    Mein Name rief mich an.
    Taguchi Hiro!
    Im Gedränge der U-Bahn-Station hatte mich jemand an der Schulter gefasst. Ich drehte mich um.
    Kumamoto!
    Wie konnte das sein? Er stand leibhaftig vor mir. Die weiße Hand, da war sie. Er streckte sie mir entgegen. Ich schlug ein.
    Long time no see. Komm, lass uns nach oben. Er humpelte. In das Café dort drüben? Ein Tisch war noch frei. So ein Glück, lachte er, verdammt, so ein Glück. Um diese Zeit noch einen Tisch zu bekommen. Um uns herum saßen kichernde Mädchen, damit beschäftigt zu entscheiden, ob der Lipgloss, den sie gekauft hatten, zu ihrem Teint passte. Ein paar Salarymen auch. Sie telefonierten. Ein kaugummikauender Student, der den Kaugummi mit seinen Fingern langzog, wieder zurückschnalzen ließ, ihn aufblies, bis er zerplatzte. So ein Glück, wiederholte Kumamoto. Oft genug habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, dir über den Weg zu laufen. Ganze Sätze hatte ich mir zugerechtgelegt. Für den Fall, dass. Zu dumm, nicht wahr? Mir fällt kein einziger von ihnen ein. Alles weg. Hier oben. Er tippte sich gegen die Schläfen.
    Was ist geschehen, fragte ich. Ich dachte, du seist …
    â€¦ tot? Ja, nun, das war ich auch. Zuinnerst. Er hielt die Hand nicht vor den Mund, senkte seine Stimme nicht: Fünf Wochen

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