Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
einen dumpfen Druck hinter dem Brustbein und ein Ziehen im linken Arm gespürt hatte, wenn ich wieder meinen Angstzuständen verfallen war. Ich erinnerte mich an unseren Stützpunkt sechs Wochen vor meinem Suizidversuch, als unsere Physiotherapeutin, Christel Arbini, die schon viele Jahre beim DFB und der Nationalmannschaft ist, mich fragte, ob ich verletzt sei, da ich beim Leistungstest »unrund« lief. Ich war aber nicht verletzt, physisch jedenfalls nicht. Sollte ich jetzt zusätzlich zu meiner seelischen Erkrankung durch die Umstände meiner Schiedsrichterarbeit während der vergangenen achtzehn Monate auch noch einen körperlichen Schaden davongetragen haben? So viel hatte ich in den vergangenen Wochen durchmachen müssen. Das Herz ist der Sitz der Seele. Und plötzlich war die alte Angst wieder da.
Ich musste ins Krankenhaus. Die erste Nacht dort war sehr traurig, ich spürte erneut meinen Lebensmut schwinden. Mein Kopfkino begann wieder zu laufen. Wieder endlose Grübeleien, warum das alles nur über mich gekommen war. Mein Schamgefühl und die Angst vor der Zukunft. Ich dachte an Rouja und unsere Liebe. Auch ging mir durch den Kopf, dass ich wohl niemals Vater werden und Kinder haben wollte, denn ich würde mich vor meinem eigenen Kind schämen, weil ich ihm niemals erklären könnte, wie es zu den schrecklichen Ereignissen gekommen war und warum ich so versagt hatte, diese Lebenskrise zu lösen. Womöglich würden meine Kinder wegen ihres Vaters in der Öffentlichkeit sogar gehänselt? Es war zu viel. Vielleicht, dachte ich plötzlich, war dieser Rückschlag ja nur ein Härtetest von oben für meine Willenskraft, ein Test, wie ihn sich Dr. Hettich niemals hätte ausdenken können? Vielleicht sollte ich mir in meinem Zustand der Angst noch einmal ernsthaft vor Augen führen, was ich mir und anderen mit all meinen negativen Gedanken in den letzten eineinhalb Jahren angetan hatte? Ich empfand diese »Prüfung« mit einem Mal auch als einen Auftrag, einen Neuanfang mit völlig veränderten Lebenszielen zu starten. In diesem Augenblick schaltete ich zum ersten Mal mein Kopfkino aus eigenem Willen einfach wieder ab. Ich würde mit Rouja alles in Ruhe besprechen, wenn ich hier wieder raus wäre.
Am nächsten Morgen warteten wir sehnsüchtig auf meinen Befund, doch wir mussten uns noch bis zum Nachmittag gedulden. Der Verdacht auf Herzinfarkt wurde dann zum Glück entkräftet, es gab aber auch ein paar Befunde, die weitere Aufmerksamkeit verlangten. Es wurde deutlich, dass die Krise auch an meinem Körper nicht spurlos vorübergegangen war, und noch heute gehe ich regelmäßig zur Kontrolluntersuchung.
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Dr. Hettich hatte mir nach zwei Wochen deutlich zu machen versucht, dass auch weitere Maßnahmen der Therapie förderlich wären, damit ich schneller aus meinem schwarzen Loch herauskäme. Er schlug mir vor, dass ich mit leichten Achtsamkeitsübungen beginnen solle, um Körper und Seele in Einklang zu bringen.
Rouja war bei diesen Übungen immer mit dabei und eines Morgens saßen wir bei einer Therapeutin und begannen mit einer Achtsamkeitsübung, die uns einerseits das Bewusstsein für unsere Atmung geben und andererseits durch die Konzentration auf den Prozess des Atmens jeden negativen Gedanken ausblenden sollte. Die Atmung ist der wichtigste Teil des menschlichen Lebenswillens: Wir können Wochen überleben, ohne etwas zu essen, ein paar Tage, ohne etwas zu trinken – aber nur wenige Minuten, ohne zu atmen. Atmen ist Leben, ein und aus, Leben ist Atmung. Das ist der Rhythmus, der uns unbewusst am Leben erhält. Ohne Sauerstoff würde auch der zweite Taktgeber des Lebens, unser Herz, binnen weniger Minuten aufhören zu schlagen. Ich war mit solchen Gedanken vorher nie intensiv in Kontakt gekommen. Ich war Fußballspieler, dann Schiedsrichter, ich hatte zu laufen – und wenn ich mal schneller außer Atem kam, dann wurde mehr trainiert. Dass der Atem auch über die Qualität meines Lebens bestimmt, die Einheit zwischen Körper, Geist und Seele herstellt, hatte ich vorher so noch nie gesehen.
Rouja war gespannt auf diese Übung. Die vergangenen Wochen hatten auch sie extrem beansprucht, durch meine immer wieder geäußerten Gedanken, mein Leben zu beenden, war sie Tag und Nacht in ständiger Alarmbereitschaft, und während ich in meinem Zimmer sinnlos grübelte, konnte sie zu Hause nicht schlafen, weil sie wusste, dass ich das tat – und weil sie wiederum nicht wusste, ob ich mir etwas antat. Ich
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