Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Elemente betrachten! Der große Rafati fühlte sich völlig fehl am Platz. Auch in der Sparkasse hatte ich niemals jemanden so selbstvergessen atmen – oder so tief wie Rouja schlafen gesehen. Was war nur los? Was sollte das?
Meine Gedanken waren, dass ich vor ein paar Wochen noch im Dortmunder Stadion vor 50.000 Zuschauern und einem Millionenpublikum vor dem Fernseher meinen Mann hatte stehen dürfen und jetzt plötzlich im Wald stand und irgendwelche unsinnigen Konzentrationsübungen für den Geist und die Seele durchführen musste. Bei der nächsten Übungsrunde im Wald stand ich wie Rumpelstilzchen auf einer bemoosten Lichtung und dachte – genau – »Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Babak Rafati heiß«. Ich war nur mit der Frage beschäftigt, ob mich einer der anderen Spaziergänger erkennen würde. Noch nie in den ganzen Wochen, in denen ich auf der Flucht vor den Medien und der Öffentlichkeit war, hatte ich mein Gesicht so tief in meiner Rockykapuze vergraben. Es war mir abgrundtief peinlich. Ich dachte, ich glaub, ich steh im Wald – und tatsächlich stand ich da, ungeschützt mitten in Mutter Natur, mein Yin und Yang ein- und ausschnaufend. Was für ein Abstieg! Was hatte ich mir nur angetan?
Mit dieser Übung sollten wir lernen, bei voller Konzentration aufs Geschehen aus der Natur neue Energiereserven und positive Gedanken zu tanken – und beim Ausatmen all die negativen Gedanken, eben alles, was uns beschwerte, auszuatmen, aus uns herauszulassen. Ein und aus. Das Gute und Schöne einatmen – die negativen Bilder und Erinnerungen aus und von uns weg in den winterlichen Wald hauchen. Wenn man sich genau und nur darauf konzentriert, kommt man in einen bestimmten Rhythmus, der viele frische Sauerstoff tut sein Übriges. Und irgendwann machte es »Klick«. Ohne dass ich es sofort merkte, hatte ich plötzlich meinen Atem wiedergefunden, der mich all die Jahre wie ein treuer Knecht begleitet hatte – und den ich dann durch all meine Gedankenlosigkeit, den Stress und die Zertrümmerung verloren hatte. Das war es. Ich atmete tief und klar, ohne an etwas anderes zu denken als an diese unglaublich beruhigende Musik des Atems. Ich schnappte nicht mehr hektisch nach Luft, ich musste nicht mehr gähnen. Ich nahm jedes Luftmolekül, seine Temperatur, seine Feuchte wahr, ließ die Luft wie warmen Regen durch meinen Körper perlen. In den Tannenkronen hörte ich das Rauschen des Windes und ich genoss mit jeder Faser meines Körpers all die Düfte des Waldes und die Sinfonie seiner Geräusche. Ich atmete Leben ein. Ich war in einem Moment wieder bei mir, so, wie ich es all die Jahre gewesen war, bis ich mich verloren hatte. Ich war wieder eins. Der Spiegel meines Selbstbildes, der in Millionen Teile zerborsten war in jener Nacht im Kölner Hotel, zeigte mir wieder ein Bild, das ich kannte. Das war ich.
Patientenbericht Nr. 6, Babak Rafati, Dr. Hettich
Zunehmend gelang es ihm in der Therapie, neue Werte für sein Leben zu entwickeln. So entschied er sich, dass ihm weiterhin Ansehen und Anerkennung wichtig sein sollten, für ihn aber in Zukunft familiäre Bindungen und persönliche Beziehungen im Vordergrund stehen sollten. Beruflich wollte er in Zukunft unabhängig sein, um mehr Zeit mit den Menschen verbringen zu können, die er liebte. Er plante, aktiv zu sein und Herausforderungen zu suchen, ohne die anderen Werte in seinem Leben darüber zu vergessen. Und Gerechtigkeit sollte ihm weiter wichtig sein, wohl wissend, dass es sich dabei mehr um eine Richtung handelt, in die man gehen kann, als um ein Ziel, das absolut erreicht werden muss. Nachdem sich Herr Rafati bewusst gemacht hatte, wie sehr ihn die alten Grundannahmen unter Druck gesetzt hatten und wie entlastet er sich sein neues Leben mit den neuen Werten vorstellte, begann er aktiv, sein Leben umzustellen. Er widmete sich zunehmend seiner Familie, seiner Lebensgefährtin und erlebte die gemeinsam verbrachte Zeit bewusst und mit Dankbarkeit. Das Schiedsrichtersein hatte für ihn keine Bedeutung mehr, stattdessen suchte er sich als neue Herausforderung, andere Menschen in seinem persönlichen Umfeld über Depressionen aufzuklären, damit diese sich schneller in Behandlung begeben würden.
Die Therapiegespräche mit Dr. Hettich entwickelten sich unterdessen immer mehr zum Highlight in meinem Klinikalltag. Er war für mich mehr Mentor und Trainer als Arzt. Er forderte und förderte mich – aber immer aus einer großen Anteilnahme heraus mit
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